Der ewige Untergang

Wie in jedem Winter wird Venedig zur Welthauptstadt der Gummistiefel, wenn Acqua Alta kommt, das Hochwasser. Seit Jahren aber kommt es öfter, und es steigt höher. Ist das ein Grund zur Sorge?

Das auf den ersten Blick erstaunlichste an Venedig ist die schiere Unwahrscheinlichkeit, dass an einem solchen Ort überhaupt eine Stadt existieren kann. Mitten aus dem Wasser der Lagune, auf instabilen Sandbänken gegründet, ragen die zahllosen Kirchen und prächtigen Adelspaläste, die palazzi dei nobili, hervor. Um dies möglich zu machen, wurden die Häuser auf Aufschüttungen gegründet und die Fassaden mit in den Schlamm gerammten Eichenpfählen stabilisiert. Schon seit dem 13. Jahrhundert wurde ein strenges Wassermanagement betrieben, organisiert durch sogenannte Wasserräte. Die einmalige Lage in der Lagune bot einen hervorragenden Hafen und schützte die Stadt vor Angriffen aus dem Hinterland.

Doch während die Lage im Meer über viele Jahrhunderte ein strategischer Vorteil von Venedig war, steht dem einzigartigen Weltkulturerbe inzwischen das Wasser bis zum Hals. Immer öfter sucht „Acqua Alta“ die Stadt im Winter heim, das Hochwasser. Wird am historischen Messpunkt Punta Salute mehr als 1,10 Meter über der Nullmarke erwartet, dann heult der Sirenenalarm über die roten Ziegeldächer, und die Bewohner und Ladenbetreiber räumen alles weg, was zu Schaden kommen könnte. Die meisten lassen das Wasser einfach in ihre Häuser hinein. Andere dagegen haben sie aufwendig gegen den Wasserdruck befestigen lassen, setzen Schotten in die Eingangstüren und werfen die Pumpen an.

Die Häufigkeit von Hochwasser hat sich in den vergangenen 40 Jahren verdoppelt, 2010 gab es 18-mal Alarm und somit einen neuen Rekord – obwohl die Sciroccostürme, die das Mittelmeerwasser in den Golf von Venedig drücken, seltener geworden sind. Der mittlere Meeresspiegel liegt heute bei 33 Zentimetern. Ab 80 Zentimeter, die schon bei einer normalen Springflut erreicht werden, steht das Wasser auf der Piazza San Marco, bei 1,20 Meter wird ein Drittel der Stadtfläche überflutet, und bei 1,40 Meter sind es schon 90 Prozent. Das schlimmste Hochwasser des vergangenen Winters kam ausgerechnet zum Heiligen Abend und erreichte 1,44 Meter. Die Feier der Mitternachtsmesse durch den Patriarchen Angelo Scola in der Basilica di San Marco musste deshalb um mehrere Stunden vorverlegt werden.

Venedig ist zu einem Hauptumschlagplatz für Gummistiefel geworden, denn viele Touristen trifft das Hochwasser unvorbereitet. Wohl nirgendwo sonst auf der Welt ist die Auswahl in den Schaufenstern so groß, insbesondere an Varianten für die modebewusste Dame. Da gibt es etwa die aus froschgrünem, ganz weichem Naturkautschuk mit Strickrand, die man rollen oder lässig in Falten um die Fesseln spielen lassen kann, wenn man sie nicht gerade an einer besonders tiefen Stelle bis unters Knie hochziehen muss.

Derweil bestimmen Forscher anhand der Gemälde von Canaletto den Anstieg des Wassers in Venedig. Canaletto und sein Neffe und Schüler Bellotto nutzten im 18. Jahrhundert nämlich eine Camera obscura als Hilfsmittel für ihre fotorealistische Malerei. Die Höhe des braungrünen Algenbesatzes auf den venezianischen Palästen verrät dabei die damalige mittlere Hochwassermarke. Die Analyse zeigt: Seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist der Meeresspiegel relativ zu den Häusern um rund 60 Zentimeter angestiegen.

Doch warum kommt es immer häufiger zu Acqua Alta? Drei Hauptfaktoren kommen dabei zusammen.

Erstens sinkt die Stadt langsam ab. Das liegt zum Teil an dem Gewicht der Stadt selbst, die auf jungen, noch nicht verdichteten Sedimenten erbaut wurde. Zum Teil liegt es aber auch an der Grundwasserentnahme der Industrie in der Region. Zwischen 1930 und 1970 ist deshalb in Venedig der relative Meeresspiegel, das heißt relativ zum Land, um zehn Zentimeter mehr gestiegen als im benachbarten Triest.

Der zweite Faktor ist die künstliche Verbreiterung und Vertiefung der Durchlässe zum offenen Meer, um Öltanker zum Hafen von Marghera und Kreuzfahrtschiffe in die Lagune zu lassen. Dadurch strömt die Tide heute rascher in die Lagune hinein und erreicht höhere Spitzen.

Der dritte Faktor schließlich ist der Anstieg des Meeresspiegels durch die globale Klimaerwärmung, der auch vor dem Mittelmeer nicht haltmacht. Dieser Faktor wird für die Zukunft der Stadt die entscheidende Rolle spielen.


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mare No. 89

No. 89Dezember 2011 / Januar 2012

Von Stefan Rahmstorf

Schon oft war Stefan Rahmstorf, Jahrgang 1960, Professor für Physik der Ozeane an der Universität Potsdam und einer der weltweit führenden Meeresspiegelexperten, in Venedig, ohne dabei eine Acqua Alta zu erleben – bis er im November letzten Jahres eingeladen wurde, auf einem Unesco-Workshop zum Meeresspiegel in Venedig den Eröffnungsvortrag zu halten. Die Veranstaltung hatten die ortsansässigen Meeresforscher so terminiert, dass sie auf Vollmond und somit eine Springflut fiel. Die brachte mit 1,25 Metern dann auch eine anständige Acqua Alta. Rahmstorf liebt außerdem die Fotografie – sein erstes Foto publizierte er als Student in einer deutschen Wochenzeitung. Seither illustriert er seine populärwissenschaftlichen Vorträge und Bücher mit eigenen Fotos.

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Vita Schon oft war Stefan Rahmstorf, Jahrgang 1960, Professor für Physik der Ozeane an der Universität Potsdam und einer der weltweit führenden Meeresspiegelexperten, in Venedig, ohne dabei eine Acqua Alta zu erleben – bis er im November letzten Jahres eingeladen wurde, auf einem Unesco-Workshop zum Meeresspiegel in Venedig den Eröffnungsvortrag zu halten. Die Veranstaltung hatten die ortsansässigen Meeresforscher so terminiert, dass sie auf Vollmond und somit eine Springflut fiel. Die brachte mit 1,25 Metern dann auch eine anständige Acqua Alta. Rahmstorf liebt außerdem die Fotografie – sein erstes Foto publizierte er als Student in einer deutschen Wochenzeitung. Seither illustriert er seine populärwissenschaftlichen Vorträge und Bücher mit eigenen Fotos.
Person Von Stefan Rahmstorf
Vita Schon oft war Stefan Rahmstorf, Jahrgang 1960, Professor für Physik der Ozeane an der Universität Potsdam und einer der weltweit führenden Meeresspiegelexperten, in Venedig, ohne dabei eine Acqua Alta zu erleben – bis er im November letzten Jahres eingeladen wurde, auf einem Unesco-Workshop zum Meeresspiegel in Venedig den Eröffnungsvortrag zu halten. Die Veranstaltung hatten die ortsansässigen Meeresforscher so terminiert, dass sie auf Vollmond und somit eine Springflut fiel. Die brachte mit 1,25 Metern dann auch eine anständige Acqua Alta. Rahmstorf liebt außerdem die Fotografie – sein erstes Foto publizierte er als Student in einer deutschen Wochenzeitung. Seither illustriert er seine populärwissenschaftlichen Vorträge und Bücher mit eigenen Fotos.
Person Von Stefan Rahmstorf