Der einsame Posten

Der Spratly-Archipel im Südchinesischen Meer liegt inmitten wichtiger Weltschifffahrtsstraßen, unter seinem Meeresboden liegen gigan­tische Rohstofflager. Fünf Staaten streiten sich um die Hoheits­rechte – mit bizarren Mitteln

An einem entlegenen Fleck im Südchinesischen Meer, 105 Seemeilen von den Philippinen entfernt, befindet sich ein Riff, das die Philippiner Ayungin nennen. Seit 1999 sitzt dort die „Sierra Madre“ fest, ein ehemaliges US-Militärschiff, das im Zweiten Weltkrieg und in Vietnam im Einsatz war. Die philippinische Regierung unterhält dort eine Art postapokalyptische Garnison von acht Soldaten. Ihr Stützpunkt ist Teil eines geopolitischen Konflikts, der die Zukunft der Welt prägen wird. Anfang August 2013 nähern wir uns in einem Fischerboot dem Ayungin-Riff, zu seinen beiden Seiten sind Kutter der chinesischen Küstenwache stationiert. Mit im Boot ist Bürgermeister Eugenio Bito-onon jr., in dessen Zuständigkeit die meisten der von den Philippinen beanspruchten Gebiete im Südchinesischen Meer liegen. Die Präsenz der Chinesen hält die philippinische Marine davon ab, Versorgungsfahrten zur „Sierra Madre“ zu unternehmen, doch Fischerboote dürfen passieren. Bito-onon steht am Bug und blickt nervös zu den Kuttern. Wenn er seine Wählerschaft auf der Insel Pag-asa besucht, kommt er häufig am Riff vorbei. Letzten Oktober, erzählt er, sei ein chinesisches Kriegsschiff mit hoher Geschwindigkeit mitten durch seinen Konvoi gekreuzt und hätte beinahe eine Schleppleine zwischen zwei Booten gekappt. „Sie werden immer aggressiver“, sagt der Bürgermeister. Nach einigen angespannten Momenten ist klar, dass wir verschont bleiben. Die „Sierra Madre“ liegt direkt vor uns. Von Weitem betrachtet, sieht sie nicht anders aus als die chinesischen Schiffe. Aus der Nähe zeigt sich ihr wahrer Zustand: Sie ist von Rost zerfressen, durch die Löcher fließt Wasser ins Innere des Rumpfes. Ganze Abschnitte des Decks sind unbegehbar. Dort, wo die Männer sich bewegen, sind alte Türen, Bleche und Sperrholzplatten ausgelegt, damit niemand in den Tankraum stürzt. In der Entfernung setzen sich die chinesischen Schiffe in Bewegung, ihre Botschaft ist unmissverständlich: Wir behalten euch im Auge, wir sind hier. Die Spratly-Inseln, zu denen Ayungin gehört, erstrecken sich über rund 400000 Quadratkilometer vor den Küsten der Philippinen, Malaysias, Bruneis, Vietnams, Taiwans und Chinas. Neben den Philippinen beanspruchen auch China, Taiwan, Malaysia und Vietnam den Archipel für sich und halten einige Inseln besetzt. Chinesen und Taiwaner stützen ihre Ansprüche auf alles Mögliche, von uralten Dokumenten der Xia- und der Han-Dynastie bis zu einer Karte der Kuomintang von 1947. Die sogenannte Nine-dash-Linie, die sich von jener Karte herleitet, schiebt sich bis vor die Küsten der benachbarten Länder und schließt fast das gesamte Südchinesische Meer ein. Der Anspruch der Philippinen gründet sich auf das Seerechtsübereinkommen der UNO von 1982, in dem Ausschließliche Wirtschaftszonen bis zu einer Grenze von 200 Seemeilen vor den Küsten der Staaten festgesetzt wurden. Schätzungen zufolge könnte der Boden unter den Spratlys bis zu 5,4 Milliarden Barrel Öl und 1,6 Billionen Kubikmeter Erdgas bergen. Das dortige Meer zählt zu den reichsten Fischgründen der Welt. Außerdem passiert alljährlich rund die Hälfte der Seefracht aller Handelsflotten und fast ein Drittel der weltweiten Rohöltransporte das Südchinesische Meer. 2012 versuchte ein philippinisches Kriegsschiff chinesische Fischerboote, die angeblich innerhalb der philippinischen Wirtschaftszone gefährdete Arten gefangen hatten, aus dem Gebiet des Scarborough-Riffes zu vertreiben. Jenes Riff liegt zwar weiter nördlich als die Spratlys, ist aber in vieler Hinsicht ein Präzedenzfall. China liegt mit etlichen seiner Nachbarn im Streit und scheint bereit, die Muskeln spielen lassen. „In China geschieht nichts über Nacht“, sagt Stephanie Kleine-Ahlbrandt, Direktorin des Asien-Pazifik-Programms am United States Institute of Peace, „jede Aktion wird über Jahre geplant und vorbereitet.“ Auch die USA sind in Habachtstellung. 2010 erklärte die ehemalige US-Außenministerin Hillary Clinton im Rahmen des Gipfels der Association of Southeast Asian Nations (Asean) in Hanoi, die ungehinderte Seefahrt im Südchinesischen Meer sei „von nationalem Interesse“ für die Vereinigten Staaten, und „legitime Ansprüche auf maritimen Raum im Südchinesischen Meer sollten ausschließlich von rechtmäßigen Ansprüchen auf Landgebiete abgeleitet werden“. US-Präsident Obama und seine Vertreter haben Amerikas Interessen in der Region immer wieder unterstrichen. Chinas Verhalten und die Kontrolle der Seewege im Südchinesischen Meer werden zu den großen weltpolitischen Themen des 21. Jahrhunderts zählen.

Aus dem Amerikanischen von Harald Stadler


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mare No. 102

No. 102Februar / März 2014

Von Jeff Himmelman und Ashley Gilbertson

Jeff Himmelman, Jahrgang 1976, ist Schriftsteller, Musiker und Autor des New York Times Magazine, wo seine Reportage zuerst erschien.

Der New Yorker Fotograf Ashley Gilbertson, geboren 1978, vertreten von der Agentur VII, war der erste Zivilist, der die philippinischen Stützpunkte besuchte.

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Vita Jeff Himmelman, Jahrgang 1976, ist Schriftsteller, Musiker und Autor des New York Times Magazine, wo seine Reportage zuerst erschien.

Der New Yorker Fotograf Ashley Gilbertson, geboren 1978, vertreten von der Agentur VII, war der erste Zivilist, der die philippinischen Stützpunkte besuchte.
Person Von Jeff Himmelman und Ashley Gilbertson
Vita Jeff Himmelman, Jahrgang 1976, ist Schriftsteller, Musiker und Autor des New York Times Magazine, wo seine Reportage zuerst erschien.

Der New Yorker Fotograf Ashley Gilbertson, geboren 1978, vertreten von der Agentur VII, war der erste Zivilist, der die philippinischen Stützpunkte besuchte.
Person Von Jeff Himmelman und Ashley Gilbertson