Der baltische Patient

Ist die Ostsee noch zu retten, oder stirbt sie an dem Gift, das sie täglich schluckt? Die Prognose der Ostseeforscher

Oje, arme Ostsee. Die Wasserwerte sehen wirklich gar nicht gut aus. Zu wenig Sauerstoff, kaum Salz und ganz wenig Fische. Stattdessen Stickstoff und Phosphor! Schwefelwasserstoff, Kadmium, Kupfer, Chlor! Überall machen sich Blaualgen breit, in übel riechenden Fladen treiben sie an die Strände. Schon einmal barfuß im Ostseewasser gestanden? Die Füße sind nicht mehr zu sehen, so trüb ist die Suppe.

Ganz klar, die Ostsee erstickt. Wenn sie nicht vorher an ihrem hässlichen Ausschlag zu Grunde geht oder an den Giften, die der Mensch ihr täglich einflößt. Allerhand Experten und Vertreter der Presse versammeln sich am Krankenbett des baltischen Patienten, um sein baldiges Ableben zu verkünden. Doch dann fegt Sturm aus West über das Meer. Sofort geht es dem Todeskandidaten viel besser, und auch die Propheten seines Untergangs sind verschwunden. Wie steht es denn nun um die sieche See?

Bodo von Bodungen, Leiter des Instituts für Ostseeforschung in Warnemünde, kennt die Krankenakte bis ins feinste Detail – keine erfreuliche Lektüre, wirklich nicht. Dennoch ist er von der Robustheit des Pflegefalls überzeugt. Seine Prognose: „Die Ostsee wird uns alle überleben. Nicht nur unsere Generation, ich meine den Menschen überhaupt.“

Schon die Metapher vom Patienten – „anthropozentrischer Unsinn!“ – geht ihm eigentlich gegen den Strich. Wenn überhaupt, dann müsse man von einer chronischen Krankheit reden, oder, genauer: von einem Geburtsfehler. Denn die Ostsee leide seit ihrer Entstehung an einem Mangel, der nicht zu kurieren ist.

Sie ist wie die Nordsee ein Nebenmeer des Atlantiks, aber ihr Weg in den offenen Ozean wurde bald nach dem Ende der Eiszeit verbaut. Vom Gewicht der Gletscher befreit, tauchte die Erdkruste vor 10000 Jahren wieder höher aus dem darunter liegenden Mantel auf; die Landmassen wurden angehoben, zwischenzeitlich war die Ostsee sogar ganz abgeschnitten von der Nordsee. Erst ein allgemeiner Anstieg des Meeresspiegels ließ wieder Salzwasser über die Schwelle zwischen schwedischem Festland und den dänischen Inseln schwappen.

Durch dieses Nadelöhr muss das Nordseewasser noch heute; der Gesamtquerschnitt des Zuflusses beträgt gerade 0,35 Quadratkilometer. Zu wenig, um das baltische Wasservolumen von 21600 Kubikkilometern zügig auszutauschen. Ein Liter Wasser, der zwischen Helsingør und Helsingborg in die Ostsee fließt, braucht 25 bis 35 Jahre, bis er wieder zurück in die Nordsee gelangt. Und genau diese Unterversorgung mit Seewasser ist schuld an den Defiziten im Salz- und Sauerstoffhaushalt des Baltischen Meers.

Die Ostsee ist eines der größten Brackwassermeere der Erde; mehr als 200 Flüsse und der Niederschlag liefern einen Überschuss an Süßwasser, das – weil leichter – an der Oberfläche in Richtung Westen strömt. Der Nachschub an schwerem Salzwasser fließt in der Tiefe über die Schwellen am Eingang zur Ostsee. Wie weit das Nordseewasser nach Norden und Osten vordringt, hängt von Wind und Wetter ab; nach Osten hin nimmt der Salzgehalt ständig ab. Im Kattegat liegt er noch bei etwa 30 Gramm je Liter, in den entlegenen Zipfeln des Finnischen oder Bottnischen Meerbusens sind es weniger als fünf Gramm.

Wie jedes Brackwasser mit schwankender Salinität ist die Ostsee vergleichsweise arm an Tier- und Pflanzenarten, und die wenigen Geschöpfe, die es hier aushalten, leben häufig an der Grenze der Bedingungen, die für sie noch tolerabel sind. Wenn in einem Jahr mit häufigen Weststürmen besonders viel salzhaltiges Wasser in die Ostsee gelangt, dann kann beispielsweise der Seestern auch östlich der Lübecker Bucht noch existieren. Sinkt der für ihn lebenswichtige Salzgehalt in den Folgejahren, geht er dort zu Grunde.

Prompt klingeln die Telefone bei den Ostseeforschern in Warnemünde: Kippt jetzt die Ostsee um? Wie ernst ist die Lage? Der Meeresbiologe von Bodungen antwortet mit philosophischer Ruhe und doch wissenschaftlich korrekt: „Das Werden und Vergehen gehört von jeher zu den natürlichen Vorgängen in der Ostsee.“


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 32. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 32

No. 32Juni / Juli 2002

Von Olaf Kanter

Olaf Kanter, geboren 1962, hat Anglistik und Geschichte studiert. Bei der Zeitschrift mare betreute er bis Ende 2007 die Ressorts Wissenschaft und Wirtschaft. Seit 2008 ist er Textchef im Ressort Politik bei Spiegel Online. Er lebt in Hamburg.

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Vita Olaf Kanter, geboren 1962, hat Anglistik und Geschichte studiert. Bei der Zeitschrift mare betreute er bis Ende 2007 die Ressorts Wissenschaft und Wirtschaft. Seit 2008 ist er Textchef im Ressort Politik bei Spiegel Online. Er lebt in Hamburg.
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