Das Wunder von Dingle

Vor 23 Jahren tauchte ein wilder Delfin in der Bucht von Dingle auf, und eine kleine irische Stadt fand ihre große Liebe

Eines Tages kam der Regenschirmmann nach Dingle und gackerte im Meer. Er schwamm hinaus in die Bucht, öffnete den Schirm und ließ ihn über seinem Kopf kreisen. Dabei imitierte er die Laute eines Huhnes. Andere schlugen Steine aneinander, schleppten ihr Didgeridoo an den Strand und bliesen aus Leibeskräften. Manche tauchten das Didgeridoo sogar in den Atlantik, wegen der Schallwellen unter Wasser. Sie spielten Harfe, sie spielten Flöte, sie nahmen aufgeblasene rosa Panter mit ins Meer, sie rüsteten sich aus mit Paddeln und Besen. Alle wollten sie nur eines: die Aufmerksamkeit dieses wilden Tieres erregen, das seit 23 Jahren in der Bucht von Dingle lebt. Big Fish nennen die Einheimischen den Delfin liebevoll. Und wenn die Touristen tadelnd korrigieren, kein Fisch, ein Säugetier sei der Delfin, grinsen sie und sagen: „Ach, wirklich?“

Dingle, eine kleine Stadt an der Westküste Irlands, umgeben von grünem, gewelltem, baumlosem Land, liegt auf jener Halbinsel, die wie ein Finger in den Atlantik ragt. Weiter westlich kann man in Europa nicht kommen. Mehr Idylle geht nicht: bunte Häuser in der Bucht, steinerne Kirche auf dem Hügel, Fischernetze an der Mole, Leuchtturm auf der Klippe und am Hafen ein bronzener Delfin, der aussieht, als würde er lauthals lachen. Ein freundlicher Delfin, ganz wie das Original.

Fungi heißt der Tümmler, um die 400 Kilogramm schwer, fast vier Meter lang, der Tausende nach Dingle lockt. Er ist einer jener solitären Delfine, die sich aus dem Verband ihrer Artgenossen lösten und dem Menschen zugetan sind. Über 100 solcher Tiere hat man in den letzten 50 Jahren auf der ganzen Welt gezählt. Zwar gibt es viele Säugetiere, die für kurz oder lang ihre Gruppe verlassen, wenn aber der neugierige allein lebende Delfin sein soziales Verhalten auf Menschen ausrichtet und der delfinbegeisterte Mensch sich auf das Tier fixiert, lassen sich am Ende Geschichten erzählen wie die von Dingle und Fungi. Geschichten, in denen der Delfin das ist, was der Mensch aus ihm macht: Spielkamerad oder Geschäftspartner, spirituelle Kraft oder sexuelles Objekt, Wunderheiler oder Freund.

Von September bis Dezember gehen Nick und Suzanne Massett mit Fungi schwimmen. Zunächst machen sie nur Ausflüge am Wochenende, um zu prüfen, wie neugierig Fungi ist. „Wir testen ihn“, sagt Nick. „Er testet uns“, sagt seine Frau. Im Oktober beginnt das Ritual: Jeden Tag gegen drei, vier Uhr nachmittags, wenn die letzte Stunde vor der Dämmerung anbricht, stapfen sie durch den Matsch einer Kuhweide, ein Trampelpfad führt an altem Gemäuer vorbei zu einem Flecken Sand, eingerahmt von schwarzem Fels: dem „Fungi-Strand“.

Monatelang hatte der Delfin Nick einst ignoriert. Dann brachte Nick ein Schwimmbrett mit, und der Tümmler umkreiste den Menschen, und der Mensch begann, die Bewegungen des Delfins zu imitieren. Er drückte das Board unter Wasser, machte den Rücken rund und presste die Füße zusammen, die Plastikflossen wurden zum Fischschwanz. Geschmeidig tauchte sein Körper in die Fluten ein und beschrieb eine Wellenlinie. Ein falscher und ein echter Delfin, in Harmonie vereint. Bald aber ersann Fungi neue, aufregendere Spiele: Schnell wie ein Torpedo schießt er seitdem durchs Wasser, sein Ziel heißt Nick, Sekunden nur, dann würde seine Schnauze den Rumpf des Menschen durchbohren. Nick weiß, durch die Wucht ihrer Stöße können Delfine selbst Haie töten. Im letzten Moment aber taucht Fungi stets ab, um hinter Nicks Rücken zum Sprung anzusetzen. Manchmal streift Fungi seinen Spielgefährten mit der Flosse, niemals aber rammt er ihn. Es ist ein wildes, hemmungsloses Vergnügen, dem Nick sich hingibt, es sind Minuten wie im Rausch, wenn das Wasser höher und höher spritzt und Nick vor Freude schreit. Er vertraue Fungi, sagt Nick Massett. Sie hätten ihre Bewegungen aufeinander abgestimmt, ähnlich wie beim Paartanz. Nur dass der Tanz mit dem Delfin Nick bis zur Erschöpfung treibt.

Erst die Weihnachtstage unterbrechen den täglichen Rhythmus, wenn die Motoren der kommerziellen Delfinboote wieder das Wasser aufwühlen. Die Intimität, die Vertrautheit mit Fungi gehe in dieser Zeit verloren, sagt Nick Massett. Im Januar suchen Nick und Suzanne noch einmal den Kontakt, bis der Tag kommt, an dem Fungi auf die beiden Schwimmer zurast – und im letzten Moment abdreht und verschwindet. Indiz dafür, dass er das Interesse verliert.


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mare No. 56

No. 56Juni / Juli 2006

Von Sandra Schulz und Justin Jin

Besonders faszinierte Sandra Schulz, Jahrgang 1975, dass die Menschen an allen Orten, wo solitäre Delfine auftauchen, ähnlich reagieren. Bei ihren Recherchen stieß sie auf die Verhaltensforscherin Monika Wilke, die seit 14 Jahren die Interaktion zwischen Mensch und Delfin untersucht und ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zu diesem Thema plant.

Für den Fotografen Justin Jin, 32, war der Job in Irland eine wunderbare Abwechslung. Statt sich wie gewohnt sozialen Brennpunkten zu widmen, verbrachte er Stunden in einem kleinen hölzernen Boot auf dem Atlantik und wartete auf den Delfin.

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Vita Besonders faszinierte Sandra Schulz, Jahrgang 1975, dass die Menschen an allen Orten, wo solitäre Delfine auftauchen, ähnlich reagieren. Bei ihren Recherchen stieß sie auf die Verhaltensforscherin Monika Wilke, die seit 14 Jahren die Interaktion zwischen Mensch und Delfin untersucht und ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zu diesem Thema plant.

Für den Fotografen Justin Jin, 32, war der Job in Irland eine wunderbare Abwechslung. Statt sich wie gewohnt sozialen Brennpunkten zu widmen, verbrachte er Stunden in einem kleinen hölzernen Boot auf dem Atlantik und wartete auf den Delfin.
Person Von Sandra Schulz und Justin Jin
Vita Besonders faszinierte Sandra Schulz, Jahrgang 1975, dass die Menschen an allen Orten, wo solitäre Delfine auftauchen, ähnlich reagieren. Bei ihren Recherchen stieß sie auf die Verhaltensforscherin Monika Wilke, die seit 14 Jahren die Interaktion zwischen Mensch und Delfin untersucht und ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zu diesem Thema plant.

Für den Fotografen Justin Jin, 32, war der Job in Irland eine wunderbare Abwechslung. Statt sich wie gewohnt sozialen Brennpunkten zu widmen, verbrachte er Stunden in einem kleinen hölzernen Boot auf dem Atlantik und wartete auf den Delfin.
Person Von Sandra Schulz und Justin Jin