Das verlorene Paradies

Gewaltige Entschädigungen für Frankreichs Atomtests in Tahiti und eine rücksichtslose Modernisierung haben die Menschen in Französisch-Polynesien in eine geistige und politische Krise geführt, die das Inselreich in der Südsee lähmt

Es war im jahr 1845, Mitten im Ringen der europäischen Großmächte um die Vereinnahmung von Kolonien, als Frankreich ausgerechnet jene Gebiete unterwarf, die die Briten links liegen gelassen hatten: Tahiti, Neukaledonien sowie Wallis und Futuna. Aber kaum dass Frankreich seine Kolonien installiert hatte, schwand das Interesse wieder; die Reichtümer der kleinen Inseln waren zu unbedeutend, verglichen mit jenen in Frankreichs afrikanischen oder indochinesischen Besitzungen. Von 1890 an schienen Tahiti und seine Inseln von der Welt vergessen. Die Bewohner führten ein friedliches Leben, was ihnen gestattete, in Ruhe die Wunden zu versorgen und die Population zu stärken, die von den sozialen Umwälzungen und den eingeschleppten Krankheiten nach dem Kontakt mit den Europäern geschwächt worden war.

Im Jahr 1963 – inzwischen war aus Tahiti „Französisch-Polynesien“ geworden und seine 90 000 Einwohner lebten annähernd autark – entdeckte Frankreich seine Kolonie ein zweites Mal. Nachdem es aus Algerien vertrieben worden war, suchte es nach einem ausreichend entlegenen Ort für seine atomaren Versuche, die es als Grande Nation für unabdingbar hielt. Die Tests, 20 000 Kilometer entfernt vom Mutterland, wurden Frankreichs größtes militärisch-industrielles Abenteuer des 20. Jahrhunderts, und es währte 30 Jahre lang – genug, um das zarte soziale und kulturelle Gewebe der polynesischen Zivilisation auf Tahiti zu zerreißen.

Mit dem Eifer von Missionaren richteten sich die Militärs auf den Inseln ein; ihnen folgten die Bürokraten, Ausbilder, Fachleute und Gewerkschafter. Sie alle machten sich daran, mit gewaltigen Geldsummen Tahiti in eine „moderne Gesellschaft“ umzuformen, wohlgemerkt in eine Kopie der urbanen französischen Gesellschaft – eine Konsumgesellschaft, die sich aus Einfamilienzellen zusammensetzt, das Gegenteil der traditionellen kommunitaristischen Gesellschaften Polynesiens, die vor allem von „nunaa“, Großfamilien, geprägt sind, deren Grundsätze Teilhabe und gegenseitiger Respekt sind.

In der Überzeugung, die Träger einer höheren Kultur zu sein, proletarisierten die neuen Missionare mithilfe des Fernsehens, des Geistes des Individualismus und der Macht des Geldes jene Tahitianer, die sich dazu entschlossen hatten, weiterhin traditionsgemäß zu leben, und verhätschelten jene, die sich arglos an die neue, „moderne“ Ordnung assimilierten.

Heute zeigt sich, dass 35 Jahre dieser Rosskur genügten, um eine Gesellschaft, die sich zuvor bester Gesundheit erfreute, krank zu machen, wenn nicht sogar in Agonie zu versetzen. Frankreich hatte die Büchse der Pandora so weit geöffnet, dass sie nicht mehr zu schließen war. An Konsum Gewöhnte brauchen immer neue Reize, und so wie der Luxus der einen Generation zu einer Selbstverständlichkeit der folgenden wird, setzt der Konsument alles daran, dass seine Nachkommen in den Genuss derselben Vorteile und Privilegien kommt wie er selbst.

Aber wie kommt ein Konsument auf einer entlegenen Insel ohne Industrie, ohne Finanzplatz und ohne einen tragfähigen Handelssektor an die Mittel, nach denen er giert? Wohl kaum, indem er auf Palmen klettert und die Kokosnüsse erntet, um Koprah herzustellen, oder mit einer Piroge in die Lagune zum Fischen fährt oder Blumenkohl pflanzt, denn dafür bräuchte er Erde. Zwar gibt es auf Tahiti einen bescheidenen Handel, aber Arbeit gibt er nur wenigen, zumeist den Familienmitgliedern des Unternehmers. Nein, um ein Konsument zu werden, der diese Bezeichnung auch verdient, gibt es auf Tahiti nur einen Weg: Funktionär des französischen Staates oder des Territoriums zu werden, um dann ein Gehalt zu beziehen, das beim Doppelten der in Frankreich geltenden Tarife liegt.

So kam es, dass nach 1968 alle in Tahiti Funktionär sein wollten. Und Frankreich schuf, in steter Sorge um störungsfreie Atombombentests, immer mehr, immer neue Posten. Heute ist der Wunsch nach staatlicher Versorgung auf Tahiti so groß, dass sich auf eine Stelle im Justizvollzug (bei der man immerhin einen Großteil seiner Zeit in einem Gefängnis verbringt) 4000 Bewerber durch das Auswahlverfahren quälen.

Das Resultat dieser Bulimie der öffentlichen Hand: 2010 zählte das Territorium 27 600 Arbeitnehmer, die aus Steuern bezahlt werden – Beamte und Angestellte des Staates, des Territoriums, der Kommunen und der halbstaatlichen Organe –, die gut zwei Drittel der Bevölkerung alimentieren und 71 Prozent des Bruttoinlandsprodukts Französisch-Polynesiens ausmachen. Um den Eigenanteil dieser Gehälter finanzieren zu können, hat die Territorialregierung sämtliche Einfuhren mit hohen Steuern belegt – ein Irrsinn, der Tahiti zu einem der teuersten Reiseziele der Welt gemacht hat. Die Schwächung des Tourismus ist gewaltig: 170 000 Besucher zählte Tahiti 2010, das entspricht der Quote von vor 20 Jahren und steht der Zahl von sieben Millionen Besuchern etwa Hawaiis gegenüber.

Tahitis wichtigste Einkommensquelle hat besonders unter dem Phänomen der „défiscalisation“ gelitten: der Bau einer Vielzahl großer und luxuriöser Strandhotels durch internationale Konzerne, begünstigt durch beträchtliche Steuernachlässe. Die so vom öffentlichen Sektor mitfinanzierten Resorts wurden bald zur unfairen Konkurrenz der traditionellen Hotels, die Pioniere auf eigenem Grund mit eigenen Mitteln errichtet hatten. Die Folge ist, dass die ursprüngliche, typische Hotellerie, behutsam in Tahitis Strukturen eingebunden, heute verschwunden ist, eine Hotellerie allerdings, die Reisende suchen und die Tahitis Mythos mitbegründet hat.

Anderen Teilen der tahitianischen Wirtschaft geht es kaum besser. Die Perlenindustrie, vor 25 Jahren noch vielversprechend, ist im Niedergang, seit sich die Politik ihrer bemächtigt und klientelistisch immer neue Konzessionen und Ausnahmeregelungen erteilt. Das Ergebnis ist, dass die Überproduktion die Preise der schwarzen Perlen ins Bodenlose fallen lässt. Auch die Fischereiwirtschaft bleibt trotz gewaltiger Subventionen eine Anekdote, denn der tropische Südpazifik ist wegen der Planktonarmut vergleichsweise eine Fischwüste.

Unterdessen zeigt sich ein neues, bislang unbemerktes Problem: die Überbevölkerung. Eine kleine Insel wie Tahiti, 6000 Kilometer entfernt vom nächsten Kontinent, hat nun einmal begrenzte Ressourcen – eine Tatsache, die den alten Polynesiern bewusst war. Wenn zu viele die Inseln bevölkerten, bauten sie große Pirogen und segelten zu neuen Siedlungsgründen. Bis in unsere Zeiten setzte sich diese traditionelle Form der Emigration fort. In den Jahren um 1960 übersiedelte eine große Zahl Tahitianer nach Neukaledonien und in die USA, und in Neuseeland und Australien leben heute mehr Samoaner und Tonganer als auf ihren Heimatinseln. 65 Prozent der Bevölkerung der Cookinseln sind ausgewandert, in Niue, dem kleinen unabhängigen Inselstaat, leben gerade noch 1200 Einwohner.


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mare No. 89

No. 89Dezember 2011 / Januar 2012

Von Alex W. du Prel

Alex W. du Prel, 1944-2017, stammte altem Luxemburger Adel, segelte zwölf Jahre durch die Südsee, verbrachte Jahre auf bewohnten wie unbewohnten Atollen, war Verwalter von Marlon Brandos Insel Tetiaroa und schuf 1978 den „Bora Bora Yacht Club“, legendärer Treffpunkt für Weltumsegler. 1991 gründete der US-Bürger Tahiti Pacifique, ein Monatsmagazin für polynesische Politik, Wirtschaft und Kultur (www.tahiti-paci fique.com). Du Prel lebte mit seiner Familie auf der Insel Moorea bei Tahiti.

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Vita Alex W. du Prel, 1944-2017, stammte altem Luxemburger Adel, segelte zwölf Jahre durch die Südsee, verbrachte Jahre auf bewohnten wie unbewohnten Atollen, war Verwalter von Marlon Brandos Insel Tetiaroa und schuf 1978 den „Bora Bora Yacht Club“, legendärer Treffpunkt für Weltumsegler. 1991 gründete der US-Bürger Tahiti Pacifique, ein Monatsmagazin für polynesische Politik, Wirtschaft und Kultur (www.tahiti-paci fique.com). Du Prel lebte mit seiner Familie auf der Insel Moorea bei Tahiti.
Person Von Alex W. du Prel
Vita Alex W. du Prel, 1944-2017, stammte altem Luxemburger Adel, segelte zwölf Jahre durch die Südsee, verbrachte Jahre auf bewohnten wie unbewohnten Atollen, war Verwalter von Marlon Brandos Insel Tetiaroa und schuf 1978 den „Bora Bora Yacht Club“, legendärer Treffpunkt für Weltumsegler. 1991 gründete der US-Bürger Tahiti Pacifique, ein Monatsmagazin für polynesische Politik, Wirtschaft und Kultur (www.tahiti-paci fique.com). Du Prel lebte mit seiner Familie auf der Insel Moorea bei Tahiti.
Person Von Alex W. du Prel