Das Unsichtbare sichtbar machen

Wie die künstlerische Forschung die Kommunikation zwischen Meeresökologie und breiter Öffentlichkeit schließen kann

Im Herzen der Pariser Innenstadt ruhen Eis­blöcke, als erwüchsen sie aus dem Asphalt, gläserne Gebilde von fremder Hand geformt. Über Nacht hat sich die Stadt zur Eiswüste gewandelt. Jeder von ihnen tonnenschwer, mancher durchscheinend, andere milchig weiß. Im Sonnenlicht schimmern sie blau, als hätten sie den Ozean verschluckt, brechen das Licht wie Juwelen, Kostbarkeiten, die wie Vitrinen jahrhundertealte Flechten und Moose in sich tragen, als seien sie von Harz eingeschlossen. Als Schatz aus dem Ozean geborgen, schwimmt das Eis nun in einem Menschenmeer.

Langsam, unausweichlich lässt der milde Pariser Winter das Eis zerfließen, bis es in Rinnsalen in der Kanalisation versiegt. Zwölf Blöcke sind es, kreisrund angelegt, Indizes auf dem Ziffernblatt einer Uhr, die heruntertickt. Mit jeder Stunde, die vergeht, werden die Zeitmesser kleiner, schrumpfen, bald wirft die Uhr keine Schatten mehr. Jedes Berühren mit der warmen Haut, jedes Auflegen einer Hand, jede schützende Umarmung verkehrt sich zur todbringenden Geste, die das Eis schneller schmelzen lässt.

Ólafur Elíasson heißt der Künstler, der das Treibeis 2015 mitten im Herzen von Paris in Kooperation mit dem Geologen Minik Rosing platzierte. Als frei schwimmende Eisberge, Bruchstücke, die sich vom Nuup-Kangerlua-Fjord in der Nähe von Grönlands Hauptstadt Nuuk von der Eisfläche gelöst haben, fischte Elíasson die Findlinge aus dem Meer und ließ sie nach Paris transportieren. Zwölf Blöcke sind es, die zusammen 80 Tonnen wiegen. Jede Sekunde lösen sich 1000 solcher Blöcke von der grönländischen Eisdecke und schwimmen als Inseln durch den Ozean, bis sie klein sind wie Bojen, als hätten sie nie existiert – und jede Sekunde mehren sich zugleich die Wassermassen, steigt der Meeresspiegel unmerklich an, bis es irgendwann merklich wird.

Die künstlerische Forschung oder englisch Artistic research, Erkenntnisgewinn mit den Mitteln und Methoden der Kunst, ist eine junge Disziplin. Forschung wurde erst infolge der Hochschulreformen zum institutionell verankerten Bestandteil des Kunststudiums. Seither wird der Begriff der künstlerischen Forschung und dessen Bedeutung kontrovers diskutiert. Fraglich ist, ob die Institutionalisierung der Disziplin den Kunstschaffenden tatsächlich weiterhilft oder vielmehr als attraktives Label den Chancen von Kunsttheoretikerinnen und -theoretikern auf dem Arbeitsmarkt zuträglich ist. 

Forschende Kunstpraxis ist jedoch nichts Neues, man denke etwa an da Vinci, Goethe oder die Pointillisten. Die Bedeutung von Kunst für den kollektiven Wissenshorizont nimmt allerdings zu, wenn Kunstschaffende auf der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft unter Zuhilfenahme modernster Techniken zunehmend Strategien zur Bewältigung globaler Krisen entwickeln. Oft steht dabei das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, die Wahrnehmung unserer Umwelt im Fokus.

Was genau meint jedoch Artistic research? Ausgehend von ­einer Fragestellung werden mit den klassischen Wissenschaften vergleichbare Methoden ausgewählt, Theorien studiert, Zustände dokumentiert und Materialien kategorisiert. Kunstschaffende agieren zudem meist nicht nur als Forschende, sondern zugleich als Forschungsobjekte, wenn sie sich ungewöhnlichen Umständen aussetzen und konkrete Erfahrungen sammeln. So geht Elíassons Schüler Julian Charrière an Grenzen, wenn er seine Versuche, mit einem Schweißbrenner Gletscher zu schmelzen, fotografiert (mare No. 144). Der Künstler begibt sich dafür an Orte, die den meisten Menschen ein Leben lang verborgen bleiben. 


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mare No. 157

mare No. 157April / Mai 2023

Von Julia Stellmann

Julia Stellmann, Jahrgang 1994, studierte Kunstgeschichte, Germanistik und Kultur­manage­ment und lebt als freie Kunstkritikerin in Düsseldorf. Ihre Abschlussarbeit schrieb sie über den Mythos und die Marke Joseph Beuys. Die Autorin fühlt sich nach jährlichen Kindheitsurlauben an der holländischen Nordsee­küste auch als Landratte mit dem Meer ver­bunden, obwohl sie sich nur mit Mühe über Wasser hält.

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Vita Julia Stellmann, Jahrgang 1994, studierte Kunstgeschichte, Germanistik und Kultur­manage­ment und lebt als freie Kunstkritikerin in Düsseldorf. Ihre Abschlussarbeit schrieb sie über den Mythos und die Marke Joseph Beuys. Die Autorin fühlt sich nach jährlichen Kindheitsurlauben an der holländischen Nordsee­küste auch als Landratte mit dem Meer ver­bunden, obwohl sie sich nur mit Mühe über Wasser hält.
Person Von Julia Stellmann
Vita Julia Stellmann, Jahrgang 1994, studierte Kunstgeschichte, Germanistik und Kultur­manage­ment und lebt als freie Kunstkritikerin in Düsseldorf. Ihre Abschlussarbeit schrieb sie über den Mythos und die Marke Joseph Beuys. Die Autorin fühlt sich nach jährlichen Kindheitsurlauben an der holländischen Nordsee­küste auch als Landratte mit dem Meer ver­bunden, obwohl sie sich nur mit Mühe über Wasser hält.
Person Von Julia Stellmann