Das Schiffschromosom

Die religiösen und weltanschaulichen Werte und Ideale, die die Pilgerväter an Bord der „Mayflower“ im Gepäck hatten, bestimmen bis heute das Denken und Fühlen weißer Amerikaner

Die heiratswilligen Debütantinnen in ihren jungfräulich weißen Ballkleidern, die balzenden jungen Männer in ihren schwarzen Anzügen: Der alljährliche Reigen der „General Society of Mayflower Descendants“ in New York ist ein Highlight. Medien sind nicht zugelassen, und die wenigen Fotos, die man davon findet, evozieren eine Atmosphäre des 19. Jahrhunderts. Erstmals fand das Treffen 1895 statt, im „Waldorf Astoria“-Hotel in Manhattan.

Nur wer die Abstammung von einem der Pilgerväter nachweisen kann, die am 6. September 1620 vom englischen Plymouth mit der „Mayflower“ in See stachen und die Kolonie Plymouth in Massachusetts gründeten, kann Mitglied der Gesellschaft werden. Das Aufnahmeprozedere ist lang, und die einzureichenden Dokumente werden von einem Historiker der Gesellschaft geprüft, bevor der „Generalhistoriker“ in Plymouth zustimmt. Die Mayflower Society ist der Adel Amerikas. Dass die englischen Pilger selbst vor dem europäischen Adel geflohen waren, weil König Jakob I. ihre Abspaltung von der Church of England unter Strafe stellte, ist nur eine der Ironien der Geschichte.

Die kulturelle Erbschaft der Pilgerväter ist so etwas wie der genetische Code der Vereinigten Staaten. Vieles, was an Amerikanern auffällt, erklärt sich daraus. Der Tankwart, der einem seine Lebensgeschichte erzählt, die Sitznachbarin im Bus, die sagt, dass sie „gegen Brustkrebs kämpft“, sind so typisch uneuropäisch wie die Weigerung, die Leugnung des Holocausts oder den Appell zur Tötung von Abtreibungsärzten unter Strafe zu stellen. Alles sagen zu dürfen, was man denkt, ist heutigen Amerikanern so wichtig wie den Pilgervätern, die deswegen in die Neue Welt übergesiedelt hatten.

Die englischen Pilgerväter, die im November 1620 Amerikas Küste betraten, waren radikale Puritaner, für die das Bischofsamt eine „Erfindung Satans“ war, das Kreuzzeichen ruchlos und Weihnachten ein heidnischer Brauch. In Amerika, dem neuen Kanaan, glaubten sie, würde, wie im Buch der Offenbarung prophezeit, das tausendjährige Friedensreich anbrechen. Bis dahin würde der Arm der Anglikanischen Kirche nicht reichen, deren Sünden wegen sie „Separatisten“ geworden waren und im holländischen Leiden vorübergehend Zuflucht gesucht hatten.

Jene ungeheure Leere, die sie in Neuengland vorfanden, erschien ihnen als Geschenk Gottes. Hungrig, wie sie waren, bedienten sich die Pilger an vergrabenen Maisvorräten der Ureinwohner, nicht ohne sich gegenseitig zu versichern, den Diebstahl wiedergutzumachen. Es war die erste einer Reihe von Sünden, mit denen sie sich als Puritaner schwertaten, hatte doch der Reformator Johannes Calvin, der geistige Pate der Bewegung, die persönliche Selbstzucht gelehrt, ein Ideal der Sittenstrenge, das nun mit der Wirklichkeit kollidierte.

Wer schon den Kopf darüber geschüttelt hat, warum die amerikanischen Einreisebehörden auf dem im Flugzeug verteilten Formular fragen, ob man Terrorist, Drogenhändler oder sonstwie kriminell sei, hat hier die Antwort. Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber ist ein puritanisches Erbe wie die Forderung an Bill Clinton, seinen im „Oral Office“ begangenen Ehebruch öffentlich zu beichten. In ihren Versammlungen pflegten schon die Pilger unter Tränen zu schildern, wie sie zu Gott gefunden hatten.

Die Lehre der Prädestination, der göttlichen Vorherbestimmung der Seligkeit oder Verdammnis jedes Einzelnen, bedeutet für Calvinisten nicht, das Schicksal hinzunehmen, ist doch der Erfolg eines Menschen ein Indiz seiner Auserwähltheit. Der Drang nach ständiger Perfektionierung seiner Person ist eine amerikanische Obsession, die einem in Buchhandlungen ins Auge springt vor den endlosen Regalen voller Ratgeber zur Selbsthilfe. Ob blendend weiße Zähne oder eine fleckenlose Seele, alles zielt auf die Freilegung des „besseren Selbst“, das man in sich finden kann, wie die Puritaner die bessere Welt gefunden hatten.

Man muss, so die Devise, sein Leben selbst in die Hand nehmen. Bis heute misstrauen Amerikaner deshalb auch dem Staat, den sie geschaffen haben. Die Tea Party, die die Republikaner radikalisiert und den Boden vorbereitet hat für den Wahlsieg von Donald Trump, ist ein Produkt solchen Misstrauens, das auch politisch links orientierte Amerikaner teilen. Die „checks and balances“ wurden in die 1787 verabschiedete Verfassung eingebaut, um die Staatsmacht im Zaum zu halten. So kommt es, dass der „mächtigste Mann der Welt“ innenpolitisch weit weniger mächtig ist als etwa Frankreichs Präsident. Wer enttäuscht ist von Barack Obama, weil er Wahlversprechen nicht eingelöst hat, übersieht, dass er im Ringen mit dem Kongress nicht wesentlich mehr hätte ausrichten können.


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mare No. 121

No. 121April / Mai 2017

Von Peter Haffner

a href="/peter-haffner-urheber-603"Peter Haffner, Jahrgang 1953, ist Reporter, Essayist und Buchautor. Er lebt in Zürich. Nach vielen Jahren als Korrespondent in San Francisco glaubte er das Land zu kennen, wurde aber bei seinen Recherchen zu dieser Geschichte überrascht. Nathaniel Philbricks Buch Mayflower zeigte ihm ein Amerika, wie es ihm so noch nicht untergekommen war.

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Vita a href="/peter-haffner-urheber-603"Peter Haffner, Jahrgang 1953, ist Reporter, Essayist und Buchautor. Er lebt in Zürich. Nach vielen Jahren als Korrespondent in San Francisco glaubte er das Land zu kennen, wurde aber bei seinen Recherchen zu dieser Geschichte überrascht. Nathaniel Philbricks Buch Mayflower zeigte ihm ein Amerika, wie es ihm so noch nicht untergekommen war.
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Vita a href="/peter-haffner-urheber-603"Peter Haffner, Jahrgang 1953, ist Reporter, Essayist und Buchautor. Er lebt in Zürich. Nach vielen Jahren als Korrespondent in San Francisco glaubte er das Land zu kennen, wurde aber bei seinen Recherchen zu dieser Geschichte überrascht. Nathaniel Philbricks Buch Mayflower zeigte ihm ein Amerika, wie es ihm so noch nicht untergekommen war.
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