Das Rätsel der Sandbank

Der erste Agententhriller der Literaturgeschichte spielt in den Prielen und Seegatten der Ostfriesischen Inseln

Plötzlich hörte ich draußen ein Geräusch, einen klatschenden Schritt, als trete ein Mann in eine Pfütze. Ich war sofort hellwach, dachte aber gar nicht daran, etwa zu rufen: „Bist du das, Davies?“, denn ich wusste blitzartig, er war es nicht. Es war das Ausrutschen eines geheimnisvollen Mannes.

Die Yacht lag jetzt am Rande eines dieser tidenabhängigen Wasserwege. Es wird Stickers-Gat genannt, und man kann es nicht verfehlen, wenn man seinen Blick nach Westen entlang unseremKurs ab Cuxhaven richtet. Es war, wie Davies mir erzählte, die letzte und kniffligste Strecke jener „Abkürzung“, die die Medusa an jenem denkwürdigen Tag genommen hatte – eine Strecke, die er selbst nicht erreicht hatte.

Ich selbst empfinde es als große Erleichterung, nach vierzehn Tagen draußen, in irgendeinem Hafen zu sein. Keine Tiden oder Anker, an die man denken muss, kein Stampfen oder Rollen. Und morgens frische Milch!

Meine so schnell entstandene Theorie fiel in dem Augenblick in sich zusammen, als ich den Fuß auf den Deich setzte. Es war das unschuldigste Gebilde in der Welt – wie tausend andere in Essex und Holland – mit einem schmalen Pfad obendrauf, auf dem wir hintereinander gingen.

„Liegt die Medusa im Hafen?“, fragte Davies. „Ja, aber wir wohnen jetzt nicht darauf. Wir sind in unserer Villa in der Vico-von-Bülow-Allee – das heißt meine Stiefmutter und ich.“ Sie fügte ein paar Einzelheiten hinzu, und Davies schrieb ernst mit einem Bleistift ihre Adresse auf eine Seite des Logbuchs; eine Formalität, die irgendwie die Situation zu regeln schien. „Morgen werden wir in Norderney sein“, sagte er.

Er holte sich seine Inspirationen von der See und der Gischt selbst.Ich glaube, er unterhielt sich mit seiner Ruderpinne und ordnete seine Sprachbilder mit ihrer Hilfe. Ihn sprechen zu hören, das kam einem reinigenden Luftstrom gleich.

Meilenweit lag rundum Sandwüste. Nach Norden berührte sie den Horizont und wurde nur durch den blauen Fleck der Insel Neuwerk mit ihrem Leuchtturm unterbrochen. Nach Osten schien sie sich auch bis ins Unendliche zu erstrecken, nur der Rauch eines Dampfers zeigte, wo sie von der Elbe durchdrungen wurde.

„Ich muss mich mal ausruhen“, keuchte ich. „Gut, ich denke, wir sind über die Wasserscheide hinweg“, sagte Davies. Wir hielten das Dingi an, und er stieß den Bootshaken an der Seite hinunter. Der glitt sanft nach achtern, und selbst mein verwirrter Verstand begriff, was das bedeutete.

Wir fanden eine Nachtglocke an der Tür der Villa und läuteten sie kräftig. Oben wurde ein Fenster geöffnet, und ich rief hinauf: „Eine Nachricht von Fregattenkapitän von Brüning – dringend.“ Das Fenster wurde geschlossen, bald danach ging das Licht in der Diele an, und Dollmann im Hausmantel öffnete die Tür.


Das Rätsel der Sandbank

Es ist Sommer und heiss in London. In den stickigen Räumen des Außenministeriums hockt ein junger Mann namens Carruthers. Ihm steht eine glänzende Karriere als Diplomat bevor: Carruthers ist weltgewandt, er spricht fließend Deutsch und Französisch, bewegt sich sicher auf dem Parkett der High Society. Doch im Augenblick gähnt Langeweile, die feine Gesellschaft hat sich aufs Land zurückgezogen und feiert ihre Teegesellschaften ohne Carruthers. Ein kurioser Brief reißt ihn aus seiner Lethargie: Arthur Davies, ein Kommilitone aus Oxforder Tagen, lädt Carruthers auf seine Yacht ein, er wolle vor den Ostfriesischen Inseln Enten jagen.

Carruthers ist befremdet. Er erinnert Davies als Sportsfreund ohne akademische Erfolge, sie hatten wenig gemein, und nach dem Studium haben sich ihre Wege schnell getrennt. Carruthers möge einen Kompass und Tabak besorgen, bevor er an Bord komme, schreibt Davies. Dessen unverblümter Ton weckt Carruthers’ Neugierde. Er beantragt Urlaub.

Der junge Aristokrat Carruthers hält sich für hochseetauglich, er weiß, wie angenehm es ist, über die Reling ins Blaue zu schauen, sich von livrierten Kellnern Champagner servieren zu lassen. Doch als er in Flensburg an Bord geht, ist die Dulcibella eher ein Kutter als eine Yacht, ein Einhandsegler, notfalls auch für zwei geeignet, schäbig, aber seetüchtig. Mit der Entenjagd ist es auch nicht weit her. Arthur Davies lässt bald durchblicken, dass ihn ganz andere Dinge umtreiben. Der Erste Weltkrieg wirft seine Schatten voraus. Davies, der sich als äußerst tüchtiger Skipper erweist, hat hochgerüstete Kriegsschiffe in den deutschen Provinzhäfen beobachtet. Er ist davon überzeugt, dass der friesischen Küste in einem künftigen Seekrieg eine Schlüsselrolle zukommt. Er will den sprachkundigen Carruthers für sein Vorhaben gewinnen, das deutsche Watt auszuloten: Spionage in eigenem Auftrag, um die strategische Bedeutung der Nordseeküste zu erfassen. Carruthers willigt ein. Über den Kaiser-Wilhelm-Kanal nehmen die Freunde Kurs auf die Friesischen Inseln.

Carruthers und Davies merken bald, dass sie observiert werden. Ein Fremder umschleicht die Dulcibella im Watt. Vor Bensersiel macht ihnen der deutsche Fregattenkapitän von Brüning seine Aufwartung. Sein Marineschiff, die Blitz, ankert in der Nähe. Der scheinbar höfliche Bordbesuch dient dazu, die Engländer auszuhorchen. Dann taucht auch noch Dollmann auf, der mysteriöse Skipper der schnittigen Medusa. Davies glaubt, dass es sich bei Dollmann, der fließend Deutsch spricht, um einen Engländer handelt. Und tatsächlich, Dollmann war Lieutenant der Royal Navy, steht nun aber in Diensten des Deutschen Kaisers und ist damit, im Ehrenkodex der patriotischen Engländer, ein wahrer Schuft, dem es das Handwerk zu legen gilt. Ihre weiteren Nachforschungen führen sie zum Rätsel der Sandbank: Liegt bei Memmert vor Juist wirklich ein Wrack mit Goldstücken, wie von Brüning behauptet? Trifft sich dort eine Bergungsgesellschaft oder ein geheimer Militärstab des Deutschen Kaisers, der einen Angriff auf England vorbereitet?

Erskine Childers, Jahrgang 1870, englischer Kriegsveteran, irischer Politiker und Revolutionär, hat nur diesen einen Roman verfasst, weshalb man auf den Zusatz „Schriftsteller“ auch meist verzichtet, wenn von Childers die Rede ist. Dabei hat er ein Stück Literaturgeschichte geschrieben: „Das Rätsel der Sandbank“, „The Riddle of the Sands“, 1903 veröffentlicht, gilt als Urahn des Spionageromans. Der Roman kommt mit allen Kniffen des Genres daher, zugleich besticht er durch seinen nostalgischen Charme. Carruthers und Davies sind in einer Zeit unterwegs, in der Spionage noch Sache von Gentlemen war: Zigarren werden in getäfelten Herrenzimmern geraucht; man hat es mit gefährlichen, aber achtbaren Gegnern zu tun. Fregattenkapitän von Brüning etwa, athletisch, humorvoll, scharfsinnig, ist den Freunden immer einen Schritt voraus. Carruthers, aus dessen Sicht die Ereignisse berichtet werden, macht aus seiner Sympathie für den alten Seefuchs keinen Hehl.


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mare No. 50

No. 50Juni / Juli 2005

Von Tanya Lieske und Heinz Wohner

Tanya Lieske, Jahrgang 1964, lebt als Journalistin und Literaturkritikerin die meiste Zeit in Düsseldorf. Sonst streift sie durch Irland, wo sie Land, Leute und Literatur studiert. Sie ist in einem Seefahrerhaushalt groß geworden, hält es aber, was das Segeln angeht, mit Carruthers: Sie bevorzugt große Schiffe, die Besatzung sollte in der Mehrzahl sein.

Heinz Wohner, 1957 geboren, illustriert mit seinen handkolorierten Schwarzweißfotografien bevorzugt literarische Reisethemen. Die Handarbeit am Bild ist für ihn eine Gegenposition zur digitalen Schnelllebigkeit. Danken möchte er dem kundigen Wattführer Frank Hensel (www.wattwandern.de), der ihn für diesen Auftrag begleitete.

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Vita Tanya Lieske, Jahrgang 1964, lebt als Journalistin und Literaturkritikerin die meiste Zeit in Düsseldorf. Sonst streift sie durch Irland, wo sie Land, Leute und Literatur studiert. Sie ist in einem Seefahrerhaushalt groß geworden, hält es aber, was das Segeln angeht, mit Carruthers: Sie bevorzugt große Schiffe, die Besatzung sollte in der Mehrzahl sein.

Heinz Wohner, 1957 geboren, illustriert mit seinen handkolorierten Schwarzweißfotografien bevorzugt literarische Reisethemen. Die Handarbeit am Bild ist für ihn eine Gegenposition zur digitalen Schnelllebigkeit. Danken möchte er dem kundigen Wattführer Frank Hensel (www.wattwandern.de), der ihn für diesen Auftrag begleitete.
Person Von Tanya Lieske und Heinz Wohner
Vita Tanya Lieske, Jahrgang 1964, lebt als Journalistin und Literaturkritikerin die meiste Zeit in Düsseldorf. Sonst streift sie durch Irland, wo sie Land, Leute und Literatur studiert. Sie ist in einem Seefahrerhaushalt groß geworden, hält es aber, was das Segeln angeht, mit Carruthers: Sie bevorzugt große Schiffe, die Besatzung sollte in der Mehrzahl sein.

Heinz Wohner, 1957 geboren, illustriert mit seinen handkolorierten Schwarzweißfotografien bevorzugt literarische Reisethemen. Die Handarbeit am Bild ist für ihn eine Gegenposition zur digitalen Schnelllebigkeit. Danken möchte er dem kundigen Wattführer Frank Hensel (www.wattwandern.de), der ihn für diesen Auftrag begleitete.
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