Das Mittelmeer

Ein Essay über das Meer, das uns unsere Kultur schenkte

Es war einmal ein Schulkind, das liebte die Landkarten, die man vor ihm im Geografieunterricht entrollte, und auf diesen vor allem die blauen Flächen. Das Blau war nie einheitlich, es hatte viele Schattierungen, das gefiel ihm besonders daran. Es verstärkte die Ahnung von etwas Außerordentlichem und Begehrenswertem. Hersteller von Erfrischungsgetränken machen sich den Effekt auf ihren Etiketten zunutze. Sein Blick blieb nie lange an den Umrissen der Länder und Kontinente hängen – lieber schweifte er ab zu den Leerräumen zwischen ihnen, den Gräben und Abgründen. Ihre scheinbare Monotonie war eine Verheißung, ihre Unbewohnbarkeit zog ihn an. Er wusste, auch dort waren Menschen unterwegs, auf kleineren und größeren schwimmenden Unterlagen, aber sie verloren sich in der Weite. Andere lebten auf Inseln, die hier und da aus dem Blau hervorstachen wie zum Beweis, dass dies der Grundton war auf der terrestrischen Leinwand. Satellitenbilder des Planeten bestätigten den Verdacht, wie auch die Rede von den sieben Zehnteln.

Man zeigte ihm den Kontinent Europa – damals noch in den Grenzen des Kalten Krieges –, er aber kam nicht von der famosen blauen Borte an seinem Südrand los. Dort war die riesige Landmasse, die auch den eigenen Standort einschloss, zu Ende, das allein war schon Grund genug zum Staunen. Und dann stand da, quer über die wasserfarbene Neutralität sich schlängelnd, ein Name, der nicht leicht zu entziffern war, so weit zogen die Buchstaben sich auseinander. Er musste sie jedes Mal neu zusammensetzen, wie bei einem Sehtest, und da las er dann: Mittelmeer. Eine ziemlich schlichte Bezeichnung für ein so stattliches Gewässer. Aber eine Schulstunde ist lang, und wenn man es recht überlegte, klang Mittelmeer doch auch mysteriös. Was sollte das heißen? War dort der geografische Mittelpunkt der Welt, oder war es einfach die Mitte zwischen den drei Kontinenten Asien, Afrika und Europa? Méditerranée, der Ausdruck, den er einmal bei einem Dichter fand, war ihm damals noch nicht geläufig. Und auch mit der lateinischen Version, die so viel wie mitten im Land, binnenländisch bedeutete, hätte er wenig anfangen können. Noch war sein Sinn für das Paradoxe nicht erwacht.

Davon, dass viele der Zugvögel, die Schwärme der Abertausende Kraniche, Weißstörche und Stare, zum Überwintern dort hinübermussten, hörte er später. Und hatte nicht im Geschichtsunterricht die Chronologie der Ereignisse – Altägypten, Griechenland, das Römische Reich – ebendort ihren Anfang genommen? Auch waren die sieben Weltwunder, auf deren Kenntnis sein Großvater in seiner Autodidaktengelehrsamkeit so stolz war, dass er sie gern abfragte, bis auf eines alle rings um das Mittelmeer entstanden. Eines Tages passte das alles zusammen, und das Wort Mittelmeer erhielt seinen vollen Klang, der das Ohr des Heranwachsenden hellhörig machte. Und schon war in einem weiteren kleinen Deutschen die Sehnsucht geweckt.

Antiker Vorstellung nach war die Erde bekanntlich eine Scheibe. So absurd das heute jedem Kind erscheint, im Gedankenspiel hat die Idee des Ptolemäus ihre bezwingende Logik. Man stelle sich den damals bekannten, bewohnbaren Erdkreis vor, den der Ägypter, Babylonier, Perser, Griechen, Römer und frühen Christen – die Oikumene –, und sie springt wie von selber ins Auge. In der Mitte lag das einzige größere Meer weit und breit, vom Schwarzen Meer einmal abgesehen, dem Pontos euxeinos, an dem die Barbaren hausten. Ringsum aber, am äußersten Rand der Scheibe, breitete sich bedrohlich der Ozean aus, ein offener Ring aus nichts als Flüssigkeit. Das Ganze glich dem Überlaufbecken einer gewaltigen Springbrunnenanlage: Schiffe, die sich an die Kante vorwagten, waren natürlich verloren. So war die Gesamtkonstruktion, und erst von ihr her lässt sich die Bedeutung ermessen, die diesem Meer in der Mitte zukam. Nicht nur war es der Ursprungsort der meisten antiken Kulturen – Geburtswanne und Taufbecken in einem –, es war auch der große Whirlpool, in dem sie sich trafen, einander be- kriegten und sich vermischten.

Hier stieß die minoische Inselkultur auf das Pharaonenreich der Ägypter, wechselten sich die Handelsrouten der Phönizier, Griechen, Karthager ab, solange sie als Seemacht den Raum dominierten. Seit den Kriegszügen in archaischer Zeit – Troja, Mykene, Tiryns – herrschte dort ein reger Schiffsverkehr. Alle Arten von Rudergaleeren kommen zum Einsatz, segelbesetzte Transporter kreuzen das Meer. Den Trieren mit Rammsporn, bekannt aus Hollywoodfilmen, folgen die Superfrachter, die Tausende Tonnen Ge- treide verteilen und den Wein in Amphoren.


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mare No. 107

No. 107Dezember 2014 / Januar 2015

Von Durs Grünbein und Christian Schellewald

Durs Grünbein, geboren 1962 in Dresden, ist vielfach ausgezeichneter Lyriker, Essayist und Übersetzer. Der Georg-Büchner-Preis-Träger von 1995 ist den mediterranen Gestaden unlängst ein gutes Stück näher gekommen. Er lebt seit vergangenem Jahr mit seiner Familie in Rom.

Christian Schellewald, geboren 1962 in Essen, studierte Visuelle Kommunikation und ist heute Produktionsdesigner, Art-Direktor und Konzeptkünstler in Los Angeles. Er ist auf jeden Musenkuss vorbereitet, denn stets begleitet ihn sein Skizzenbuch. Schellewald lebt mit seiner Frau – auch sie eine Illustratorin – nahe Hollywood.

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Vita Durs Grünbein, geboren 1962 in Dresden, ist vielfach ausgezeichneter Lyriker, Essayist und Übersetzer. Der Georg-Büchner-Preis-Träger von 1995 ist den mediterranen Gestaden unlängst ein gutes Stück näher gekommen. Er lebt seit vergangenem Jahr mit seiner Familie in Rom.

Christian Schellewald, geboren 1962 in Essen, studierte Visuelle Kommunikation und ist heute Produktionsdesigner, Art-Direktor und Konzeptkünstler in Los Angeles. Er ist auf jeden Musenkuss vorbereitet, denn stets begleitet ihn sein Skizzenbuch. Schellewald lebt mit seiner Frau – auch sie eine Illustratorin – nahe Hollywood.
Person Von Durs Grünbein und Christian Schellewald
Vita Durs Grünbein, geboren 1962 in Dresden, ist vielfach ausgezeichneter Lyriker, Essayist und Übersetzer. Der Georg-Büchner-Preis-Träger von 1995 ist den mediterranen Gestaden unlängst ein gutes Stück näher gekommen. Er lebt seit vergangenem Jahr mit seiner Familie in Rom.

Christian Schellewald, geboren 1962 in Essen, studierte Visuelle Kommunikation und ist heute Produktionsdesigner, Art-Direktor und Konzeptkünstler in Los Angeles. Er ist auf jeden Musenkuss vorbereitet, denn stets begleitet ihn sein Skizzenbuch. Schellewald lebt mit seiner Frau – auch sie eine Illustratorin – nahe Hollywood.
Person Von Durs Grünbein und Christian Schellewald