Das Meer vor Triest, ein Ort des Eros

Der Schriftsteller Claudio Magris über das Meer vor seiner Haustür

mare: Claudio Magris, Sie haben einmal gesagt, das Meer würde Sie mehr interessieren als die Literatur und die Politik. Warum empfinden Sie eine so große Liebe für das Meer? Und welche Rolle spielt es in Ihrer „éducation sentimentale“, Ihrer persönlichen Entwicklung?

Claudio Magris: Es gibt Gefühle, die man schwer in Worte fassen und über die man nicht abstrakt reden kann. Wenn Sie mich zum Beispiel über die Liebe zu meinen Söhnen fragen würden, könnte ich Ihnen Details schildern oder von Episoden aus unserem Leben berichten, aber das Wichtigste bliebe dabei ungesagt. Man kann Liebe und Gefühle der Zuneigung nicht leicht definieren. Jede Erklärung oder Definition wäre kitschig und lächerlich. Dies gilt auch für meine Beziehung zum Meer.

Meine Mutter hat das Meer sehr geliebt. Sie hat mich als kleines Kind während der Sommermonate jeden Tag an das Meer von Barcola bei Triest mitgenommen. Dieses in früher Kindheit zum ersten Mal erfahrene Gefühl der Hingebung, diese Wahrnehmung der Farben, der Lust, der Gerüche, des Lichtes verbinde ich immer mit dem Meer.

Die erste konkrete Erinnerung, die ich an das Meer habe, gleicht wirklich einer göttlichen Erscheinung: Zusammen mit meinen Eltern bin ich in Strugnano, einem kleinen Dorf am Meer von Istrien. Ich war damals noch sehr klein, und vielleicht ist dieses sogar meine allererste, heute nur noch schemenhaft vorhandene Kindheitserinnerung überhaupt.

Ich liege am Meer, im Arm meiner Mutter, und spiele mit einer kleinen Plastikente, die von den Wellen und dem Wind plötzlich auf das Meer hinausgetragen wird. Mein Vater schwimmt ihr hinterher und verschwindet für mich am Horizont, im Unendlichen. Sicherlich vergrößert sich in meiner Erinnerung die tatsächliche Entfernung zu meinem Vater, aber dieses Verlieren in der Unendlichkeit bleibt für mich immer ein feststehendes Bild, wenn ich an das Meer denke.

An der Küste des Meeres hab ich auch die ersten abenteuerlichen Spiele erlebt, später dann die ersten Ahnungen amouröser Verzauberungen. Ich fühle wirklich stark die Beziehung zwischen dem Meer und der Liebe, eine Beziehung, die für mich immer sehr intensiv und gleichzeitig sehr konkret gewesen ist. Marisa, meine verstorbene Frau, liebte das Meer sehr. Es ist immer eine Konstante unserer langen Geschichte, unserer gemeinsam geteilten Existenz gewesen. Man spürt diese besondere Bedeutung des Meeres in vielen Texten, die ich geschrieben habe, zum Beispiel in „Microcosmi“.

Was ist für Sie das Besondere des Meeres gerade hier in Triest?

In Triest hat man natürlich immer eine direkte Beziehung zum Meer. Es ist hier in einem sehr wörtlichen Sinne zum Greifen nah. Man geht unentwegt am Ufer und auf den Kaimauern spazieren. In zehn Minuten kann man mit dem Auto einen Strand erreichen, von dem aus man sich in das Wasser stürzen kann. Wie viele Triestiner schwimme auch ich von Anfang Mai bis in den Oktober hinein jeden Tag. So bin ich mit diesem Wasser tief vertraut. Das Meer ist immer ein Teil der Stadt gewesen, das heißt auch meiner Existenz.

Triest hat zwei Seelen. Da ist einmal die mitteleuropäische, kontinentale, analytische und introvertierte Seele. Triest ist ein Laboratorium für feinfühlige Analysen aller Mängel, wie man es vor allem im Werk von Italo Svevo antrifft. Und da ist die Meeresseele von Triest, seine epische Seele.

Zwei Berufe, die einmal sehr stark in Triest vertreten waren, repräsentieren diese zwei Seelen jeweils besonders gut: die Beschäftigungen bei der großen Versicherung, den Assicurazioni Generali, und die Berufe im Umfeld des Meeres. Auch in meiner eigenen Verwandtschaft bestehen diese engen Kontakte. Mein Vater war bei den Assicurazioni Generali angestellt, mein Onkel und mein Schwager waren Kapitäne auf Schiffen, die rund um den Globus gefahren sind. Auch meine Frau hat einige Jahre lang bei der Versicherung gearbeitet. So ist das Meer in Triest wie in meiner Familie immer präsent.

Verlassen wir Ihren biographischen Zugang zum Meer und versuchen wir, das Meer in einem mehr abstrakten, bildhaften Sinne zu deuten. Gibt es überhaupt „das“ Meer?

Wenn man vom Meer spricht, muss man sich natürlich immer zwei komplementäre, aber auch widersprüchliche Aspekte vor Augen halten. Auf der einen Seite ist es ein Kampf, eine Herausforderung aus schierer Lebensnotwendigkeit, eine Anhäufung von existenziellen Prüfungen oder, kurz gesagt, eine Metapher für die erbarmungslose Konfrontation mit dem Leben. Man denkt hier natürlich sofort an Conrad, Melville oder Stevenson. Auf der anderen Seite ist das Meer eine große Hingebung an das Glück und den Eros.

Das Meer ist das Andere, das unruhige und treulose Element. Es folgt anderen Gesetzen als denen der festen Erde, auf die man seine Füße zu setzen gewohnt ist. Ein von unbekannten und phantastischen Kreaturen wie dem Leviathan bewohnter Abgrund, ein launenhaftes eigenes Universum, das ganz plötzlich zu einer Bedrohung werden kann. In diesem Sinn wirkt es fremd und feindlich. Man muss, um es zu überqueren oder in es einzutauchen, immer eine instinktive Furcht besiegen.

Aber dieses Meer ist nicht das beruhigende Meer, dessen Bilder Sie seit der frühen Kindheit begleiten.

Das stimmt, aber der Ozean ist ja nicht allein das Andere von uns. Vor allem ist er auch das flüssige Element des Ursprungs, von dem wir kommen, das zu großen Teilen die Materie schafft, aus der wir gemacht sind. Er ist ein entfernter Ahne und gleichzeitig ein naher Großvater, der uns vertraulich auf seinen Knien schaukelt. Der Ozean ist der Vater aller Dinge, das ursprüngliche Wasser, die – nach Hesiod – älteste und mächtigste Sache, aus der das Leben geboren ist, auf das entsprechend unsere Spezies zurückgeht, das Fruchtwasser, in dem das Individuum seine eigene persönliche Existenz beginnt, in dem es wie ein Fisch zu atmen und zu schwimmen lernt, bevor es überhaupt gehen kann.

Vielleicht gibt man sich gerade deshalb den Wellen hin und lässt sich von ihrem Rhythmus tragen, taucht unter Wasser in jene verzauberte Unendlichkeit ein oder betrachtet für Stunden das Fließen und Zerbrechen der weißen Wellenkämme. Man erfährt dies alles wie ein der Liebe ähnelndes Glück. Trotz seiner bisweilen bitteren Entfernungen, die jede bezaubernde Insel auch zu einem beunruhigenden Exil machen können, suggeriert das Meer jedoch gleichzeitig immer auch ein großes Vertrauen. Man glaubt es in seinen eigenen Venen fließen zu spüren, so als hätte die gesamte Menschheit in ihrer Kindheit am Strand mit Muscheln und Sandburgen gespielt.

Vielleicht empfinde ich dies so tief, gerade weil ich so stark die Dunkelheit, die Spaltung, den Riss, das Nichts, die Leere und die Abwesenheit des Lebens spüre. Ich glaube, in dem was ich schreibe, ist dieses Gefühl immer wahrnehmbar. Und das Meer hilft, diesem Dunklen zu begegnen.

Für mich ist das Meer nicht so sehr die große Herausforderung wie etwa bei Conrad oder Melville, sondern ich sehe es vor allem als einen Ort der Hingebung. Hier habe ich das Gefühl der Einheit des Lebens über jede Zerrissenheit und persönliche Tragödie hinaus. Für mich ist das Meer sehr stark mit der Liebe, mit dem Eros verbunden, eine große, befreiende Umarmung. In den besonders schwierigen Momenten meines Lebens half mir das Meer, mich von meiner Dunkelheit, von den Trübungen, vor allem den Ängsten zu befreien, mich von ihnen wie von einem Dreck abzuwaschen, der sich unter uns festgesetzt hat.

Als meine Frau Marisa ihre letzten zwei Monate im Krankenhaus verbrachte und wir beide sehr genau wussten, dass ihr Lebensende nahe war, verbrachte ich die Tage immer bei ihr. Und oft bat sie mich dann, ich solle doch ans Meer gehen. Auch für sie solle ich es tun, weil sie es ja nicht mehr konnte. Und jene halbe Stunde, an jenem Ufer, in jenem Wasser am Meer von Triest, gaben mir dann auch ein wenig Kraft in diesen fürchterlichen Tagen, an denen ich den größten Teil meines Lebens verlor.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 12. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 12

No. 12Februar / März 1999

Interview von Carl-Wilhelm Macke

Claudio Magris, Jahrgang 1939, ist ein bekannter italienischer Autor und lebt in Triest, wo er auch einen Lehrstuhl für deutsche Literatur innehat. Zu seinen wichtigsten Büchern gehören die Erzählungen Ein anderes Meer (deutsch bei Hanser, 1992) und Donau (Zsolnay, 1996). Im Frühjahr 1999 erscheint bei Hanser die deutsche Übersetzung seines Romans Microcosm.

Mit Magris sprach Carl-Wilhelm Macke, Jahrgang 1950. Er lebt als freier Autor in München und Ferrera. Mit Magris verbindet ihn eine lange Freundschaft, seit sie für das Kulturjournal Wiener Tagebuch schrieben

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Vita Claudio Magris, Jahrgang 1939, ist ein bekannter italienischer Autor und lebt in Triest, wo er auch einen Lehrstuhl für deutsche Literatur innehat. Zu seinen wichtigsten Büchern gehören die Erzählungen Ein anderes Meer (deutsch bei Hanser, 1992) und Donau (Zsolnay, 1996). Im Frühjahr 1999 erscheint bei Hanser die deutsche Übersetzung seines Romans Microcosm.

Mit Magris sprach Carl-Wilhelm Macke, Jahrgang 1950. Er lebt als freier Autor in München und Ferrera. Mit Magris verbindet ihn eine lange Freundschaft, seit sie für das Kulturjournal Wiener Tagebuch schrieben
Person Interview von Carl-Wilhelm Macke
Vita Claudio Magris, Jahrgang 1939, ist ein bekannter italienischer Autor und lebt in Triest, wo er auch einen Lehrstuhl für deutsche Literatur innehat. Zu seinen wichtigsten Büchern gehören die Erzählungen Ein anderes Meer (deutsch bei Hanser, 1992) und Donau (Zsolnay, 1996). Im Frühjahr 1999 erscheint bei Hanser die deutsche Übersetzung seines Romans Microcosm.

Mit Magris sprach Carl-Wilhelm Macke, Jahrgang 1950. Er lebt als freier Autor in München und Ferrera. Mit Magris verbindet ihn eine lange Freundschaft, seit sie für das Kulturjournal Wiener Tagebuch schrieben
Person Interview von Carl-Wilhelm Macke