Das Meer ist ein weisses Blatt Papier

Die japanische Scherenschnittkünstlerin Masayo Fukuda schafft einzigartig schöne Abbilder von Unterwasserlebewesen

Würdevoll sieht der weiße Krake auf schwarzem Grund aus. Sein Kopf ist im Profil dargestellt, wie auf einem klassischen Porträtgemälde, seine Tentakeln windet er in tänzerischen Schnörkeln. Auf den ersten Blick wirkt er lebensecht, aber bei genauerem Hin­sehen wird deutlich, dass seine Haut von kunstvollen Mustern überzogen ist: Kleine Wellen gehen in Netzstrukturen und Rosetten über. Die Darstellung ist überaus detailreich und fein – von den Mandalamustern auf Kopf und Mantel bis hin zu den blütenförmigen Saugnäpfen. Wie feingliedrig das Kunstwerk wirklich ist, wird jedoch erst klar, wenn man weiß, dass der gesamte Oktopus aus einem einzigen A2-Bogen Papier geschnitten ist. Wird er auf Händen gehalten, gibt er sich als großes, papiernes Spitzendeckchen zu erkennen. Bewegen sich die Hände auch noch ein wenig, dann erwacht das filigrane Tier beinahe zum Leben.

Die Erschafferin des Kraken ist die japanische Scherenschnittkünstlerin Masayo Fukuda, die sich diesem Kunsthandwerk seit 30 Jahren widmet und eine unglaubliche Fertigkeit ent­wickelt hat. Dabei fing alles recht unspektakulär an. Ihr erster Scherenschnitt war eine Geburtstagskarte mit einem Herz, die sie 1989 für eine Schulfreundin machte. Weitere Karten folgten, gleichzeitig übte sie sich im Zeichnen und absolvierte nach ihrem Abschluss einen Kunststudiengang am Junior College. 2014 konnte sie ihre Scherenschnitte in einer ersten Soloausstellung präsentieren. Der internationale Durchbruch kam schließlich 2018 mit einem Video des auf Händen gehaltenen Kraken, das auf Instagram tausendfach geteilt und zum Internethit wurde.

Ihr Oktopus mag seitdem ein Star sein, aber Masayo Fukuda selbst bleibt lieber im Hintergrund. Eigentlich ist ihre Scherenschnittkunst auch nur ein ausgeufertes Hobby, tagsüber übt sie einen anderen Beruf aus – der allerdings ins Bild passt, denn er erfordert nicht minder Geduld und Fingerspitzengefühl: Sie arbeitet für eine Uhrmacherei in Tokio, wo sie teure mechanische Armbanduhren repariert. „Dort habe ich das Arbeiten mit Präzisionswerkzeugen gelernt“, erklärt sie. Weiß man das, erkennt man plötzlich in manchem Scherenschnitt die Spuren dieser Tätigkeit wieder. So ist ihr Tiefseeanglerfisch ein mechanisches Meeresmonster, an dessen Angel Zahnräder baumeln.

In Ostasien ist Scherenschnitt ein traditionsreiches Kunsthandwerk. Die japanische Variante, Kiri¯e oder Kirigami, entstand, als ein koreanischer Mönch um 600 n. Chr. das Washipapier aus China nach Japan brachte. Washi wird nicht wie europäisches Papier aus Holzbrei, sondern aus dem Bast des Maulbeerbaums hergestellt. 200 Jahre später entstand das Seki­shu­papier, das ebenso dünn, aber stärker als Washi ist und sich gut spannen lässt. Die Motive werden als Negativ aus dem weißen Sekishu geschnitten und vor schwarzem Hintergrund präsentiert. 


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mare No. 157

mare No. 157April / Mai 2023

Von Anneke Bokern und Masayo Fukuda

Anneke Bokern, geboren 1971, lebt in Amsterdam. Selbst hat sie wenig Geduld und bewundert umso mehr Künstler, die sich pfriemeliger Arbeit widmen. Auf Niederländisch gibt es dafür das schöne Wort monnikenwerk, „Mönchsarbeit“.

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Vita Anneke Bokern, geboren 1971, lebt in Amsterdam. Selbst hat sie wenig Geduld und bewundert umso mehr Künstler, die sich pfriemeliger Arbeit widmen. Auf Niederländisch gibt es dafür das schöne Wort monnikenwerk, „Mönchsarbeit“.
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Vita Anneke Bokern, geboren 1971, lebt in Amsterdam. Selbst hat sie wenig Geduld und bewundert umso mehr Künstler, die sich pfriemeliger Arbeit widmen. Auf Niederländisch gibt es dafür das schöne Wort monnikenwerk, „Mönchsarbeit“.
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