Das Meer, die Angst, das Heilige

Fischern in Irland verlieh ihr tiefer Glaube einst großen Mut

Über dem kleinen Hafen von Cill Éinne ragt ein massiger, aus grauen Steinen gemauerter Kegel in den Himmel. Aus der Entfernung scheint eine Seemöwe auf diesem Monument ihr Nest gebaut zu haben, aber aus der Nähe stellt der Vogel sich als eine Skulptur heraus: eine Möwe auf einem Bündel Taue. Der Kegel ist mit Plaketten bedeckt, manche davon in englischer, die meisten in gälischer Sprache und Schrift. Jede dieser Plaketten erinnert an ein Schiffsunglück, bei dem Menschenleben verloren gegangen sind; die Gemeinde Cill Éinne ist winzig, aber die Litanei der Opfer der See umfasst Dutzende von Namen. Die Fischerei war und ist noch heute ein gefährlicher Broterwerb. In den letzten Jahrzehnten ist die Zahl der Todesfälle zwar stark zurückgegangen, doch selbst noch in jüngsten Jahren sind Menschen auf See geblieben. 

Wie geht man damit um, täglich solchen Risiken ausgesetzt zu sein? Und wie tat man das vor allem, ehe die Mechanisierung der Fischerei und das Aufkommen moderner Motorboote begannen, die Arbeit der Fischer und Seeleute sicherer zu machen?

Der Hafen von Cill Éinne war über Jahrhunderte der Haupt­hafen der Insel Inis Mór, der größten der Aran-Inseln in der Bucht von Galway im Westen Irlands. Die Region ist bekannt für ihre currachs, leichte, offene Ruderboote, die traditionell aus einem Holzgerippe, überspannt mit geteerter Leinwand, hergestellt werden. Die Verwendung solcher Boote auf dem Atlantik, wo sie lange in der Küstenfischerei zum Einsatz kamen, verlangte immer Augenmaß, und dieses Augenmaß war bestimmt von der Erfahrung der vielen auf See gelassenen Leben, die das Denkmal am Hafen in Stein präsent macht.

Anfangs des letzten Jahrhunderts formulierte ein alter Inselbewohner es gegenüber dem irischen Schriftsteller J. M. Synge mit den Worten: „Ein Mann, der vor der See keine Angst hat, wird bald ertrinken, denn er wird an einem Tag ausfahren, an dem er das nicht sollte. Aber wir haben Angst vor der See, und wir ertrinken nur ab und an.“ 

Angst also ist eine Art, die See zu überleben. Aber wie lebt man mit solcher dauernder Angst? 

Bereits im Mittelalter brachte Irland eine der reichsten Literaturen Europas hervor. In zahllosen Manuskripten (das Book of Kells ist das berühmteste Beispiel) wurden Sagen von Helden und Königen, Geschichtswerke, Legenden über berühmte Orte, gelehrte Spekulationen und Lebensbeschreibungen heiliger Männer und Frauen aufgezeichnet. Einer dieser Texte gilt dem Leben des heiligen Enda, dem Abt von Aran. Diese Heiligenvita aus dem 13. oder 14. Jahrhundert gibt vor, die Taten des Gründungshei­ligen und Schutzpatrons der Aran-Inseln zu beschreiben. Der ­heilige Enda soll das Christentum auf die Inseln gebracht, dort Klöster gegründet und die politische Ordnung der Inselgemeinschaft etabliert haben. Damit will der Text eine Lobpreisung des Heiligen und der Macht seiner Kirche leisten. 

Zugleich ist in die Erzählung jedoch auch eine Vielzahl lokaler Legenden, die vom Meer handeln, eingeflossen. Liest man diese Legenden, scheinen Strategien durch, wie die alten Fischer der Arans ihre Angst vor dem Meer erträglicher machten. Geschichten über die Wunder der Heiligen wurden dabei auf eine spezifische Weise verwendet, um den Fischern von Aran zu helfen, mit den Gefahren ihrer täglichen Arbeit umzugehen. 

Die Heiligenvita erzählt, dass Enda selbst nicht von den Aran-Inseln stammte, sondern vom irischen Festland. Die Arans wurden ihm vom König von Munster in ­Cashel als sein spirituelles Lehen überlassen – und damit sah Enda sich der Frage gegenüber, wie er überhaupt zu den Inseln gelangen sollte, denn er hatte kein Boot. Für einen Heiligen der irischen Legende stellt dies jedoch kein Hindernis dar. Enda wies einfach seine Mönche an, einen großen Felsen hinunter an den Strand zu tragen, und ganz so, wie Jesus trockenen Fußes über das Wasser wandelte, ließ Endas wunderwirkende Kraft den Stein über das Meer nach Aran schwimmen. So diente der Stein als ein Boot, der Enda und seine Mönche auf die Insel übersetzte. 

Wo sie an Land kamen, gründete Enda das heutige Cill Éinne (Killeany); der gälische Name bedeutet nichts anderes als „Endas Mönchszelle“. Der Stein, der Enda als Boot diente, ist unmittelbar außerhalb der Hafenzufahrt noch heute zu sehen. Dort liegt eine Felsplatte, die die Silhouette eines currach hat. Als ein natürliches Denkmal macht dieser steinerne currach die Wunderkraft des Heiligen greifbar und verkündet eine tröstende Botschaft: Diesen gesegneten Hafen erreicht sogar ein Stein.

Nach seiner Ankunft auf Aran gründete Enda das Kloster von Cill Éinne. Es wurde im 17. Jahrhundert durch Oliver Cromwells protestantische Truppen geschleift, und seine Steine wurden zum Bau einer Burg verwendet. Heute sieht man noch die Reste eines Hochkreuzes aufragen, und am Hang über dem Kloster und ­seinem Hafen findet sich noch der Stumpf eines der ikonischen Rundtürme, die einst die irische Landschaft prägten. Dieser Turm ragte bleistiftdünn in den Himmel und machte die Kirchen und Kapellen an seinem Fuß weithin sichtbar. Vor allem aber ­über­ragte er den Hafen. Wie so oft entlang der nordwest­europäischen Atlantikküste ist der Kirchturm als das höchste ­Gebäude so platziert, dass er dem Seefahrer ebenso nützt wie dem Kirchgänger. 

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mare No. 156

mare No. 156Februar / März 2023

Von Matthias Egeler

Matthias Egeler lehrt als Privatdozent am Institut für Nordische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er hat mehrere Bücher zur Kultur- und Religions­geschichte des europäischen Atlantikraums verfasst, darunter jüngst mit Susanne Ruhland eine Übersetzung und Studie zur mittelalterlichen Vita des heiligen Enda von Aran. Zuletzt schrieb er in mare No. 145 über die mythischen Peillinien isländischer Küstenfischer.

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Vita Matthias Egeler lehrt als Privatdozent am Institut für Nordische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er hat mehrere Bücher zur Kultur- und Religions­geschichte des europäischen Atlantikraums verfasst, darunter jüngst mit Susanne Ruhland eine Übersetzung und Studie zur mittelalterlichen Vita des heiligen Enda von Aran. Zuletzt schrieb er in mare No. 145 über die mythischen Peillinien isländischer Küstenfischer.
Person Von Matthias Egeler
Vita Matthias Egeler lehrt als Privatdozent am Institut für Nordische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er hat mehrere Bücher zur Kultur- und Religions­geschichte des europäischen Atlantikraums verfasst, darunter jüngst mit Susanne Ruhland eine Übersetzung und Studie zur mittelalterlichen Vita des heiligen Enda von Aran. Zuletzt schrieb er in mare No. 145 über die mythischen Peillinien isländischer Küstenfischer.
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