Das Mädchen aus Ipanema

Sie ist auf dem Weg zum Zigarettenholen – und wird zum Musenkuss für zwei Künstler. Ein Evergreeen ist geboren

Ihr schwarzes Haar reichte bis an die Hüften. Ihr Becken kreiste anmutig bei jedem Schritt. Ihre grünen Katzenaugen blitzten verführerisch in der Nachmittagssonne. Die junge Frau lief am Strand von Ipanema entlang, dem Künstlerviertel von Rio de Janeiro, Zigaretten kaufen für ihre Mutter. Ein Poet und ein Musiker erblickten dieses Geschöpf von der Bar „Veloso“ aus. Vinícius de Moraes, der große Dichter Brasiliens, und der verehrte Musiker und Komponist Antônio Carlos Jobim, den alle Tom nannten, sie waren jäh überwältigt von dem Musenkuss aus heiterem Himmel. Noch in der Bar kritzelten sie eine Liebeserklärung an das Mädchen, an die „garota de Ipanema“, ein Lied, das bald die Welt als „The Girl from Ipanema“ eroberte. Es ist bis heute eine heimliche Hymne Brasiliens.

Helô Pinheiro wurde am 7. Juli 1945 als Heloísa Eneida Menezes Paes Pinto in Rio de Janeiro geboren. Als sie zehn war, zogen ihre Eltern in den Stadtteil Ipanema, in Jobims Nachbarschaft, der Rua Montenegro. Es war im August 1962, als Helô wie so häufig an Jobims Stammbar vorbeikam, und wie immer, wenn ihr die Männer hinterherpfiffen, tat sie, als habe sie nichts gehört; sie ging einfach weiter und schaute gerade aufs Meer.

Helô Pinheiro sitzt auf einem umbrafarbenen Fauteuil in einem Nobelviertel von São Paulo. Der Ventilator surrt, und die 62-Jährige träufelt sich Wasser aus ihrem Trinkglas mit einer Hand übers Gesicht. In einem mannshohen Glasschrank liegen Muscheln, die am Ohr rauschen wie das Meer. „Ich hätte nie gedacht, dass alles so kommt. Aber das Leben ist nicht planbar“, sagt sie und lächelt.

Wann sie das Lied zum letzten Mal gehört hat? „Am Dienstag beim Autofahren. Ich habe nicht ausgeschaltet.“ Der Song verkaufte sich viele Millionen Mal. Es gibt nur ein Lied, das häufiger gecovert wurde, „Yesterday“ von den Beatles. 200 Versionen sind bekannt, von Louis Armstrong, Ella Fitzgerald, Frank Sinatra, Nat „King“ Cole, Caterina Valente und sogar von den Wiener Sängerknaben.

Schau, was für ein schöner Anblick, so voller Anmut, ist dieses Mädchen, die dort wiegenden Schrittes auf ihrem Weg zum Meer vorübergeht.“ Mit diesen Zeilen beginnt das Lied, eine Mischung aus Jazz und Samba. Die rhythmische Betonung ist weich, die Interpretation melodisch. Das Lied bedeutete den internationalen Durchbruch für einen neuen Musikstil aus Brasilien: den Bossa nova. Er steht für Leichtigkeit, aber mit einem melancholischen Grundrauschen. „Der Bossa nova ist wie ein schweifender Blick über den ruhigen Ozean“, sagt Helô. Aber auch der ruhigste Ozean trägt Schaumkronen als wilden Schmuck, ist in Bewegung.

Jobim und Moraes verrieten Helô erst ein halbes Jahr, nachdem sie den Song geschrieben hatten, dass sie die „musa inspiradora“ gewesen war. Ihr und ein paar Journalisten. Plötzlich stand Helô im Mittelpunkt, jeder wollte sie interviewen, fotografieren, kennenlernen. „Ich habe die Aufmerksamkeit genossen“, sagt sie. Damals arbeitete sie als Gelegenheitsfotomodell und -schauspielerin. Ihre Mutter war davon wenig begeistert; sie hatte Helô immer streng erzogen. Schließlich war der Vater ein General, und zu Hause herrschten Zucht und Ordnung. In einer Filmrolle, der Streifen hieß „Rio, Liebe und Sommer“, sollte sie einen Jungen küssen – da verbot ihr die Mutter, mitzuspielen.

1966 heiratete Helô und kappte das enge Verhältnis zu ihrer Mutter. Ihr Ehemann hieß Fernando, ein bürgerlicher Schnurrbartträger. Drei Jahre zuvor hatte ihr Tom Jobim im weißen Anzug am Strand von Ipanema einen Antrag gemacht. Helô lehnte ab. „Du bist zu alt, schon verheiratet, und ich bin außerdem noch Jungfrau.“ Der Barde blieb ihr ein enger Weggefährte, besuchte sie regelmäßig, vermittelte ihr Kontakte ins Showgeschäft – und wurde ihr Trauzeuge.

1987 zeigte sich Helô zum ersten Mal nackt, im „Playboy“. „Da habe ich mich richtig unwohl gefühlt. Besonders selbstbewusst war ich damals nicht“, sagt sie kokett. 2003 lässt sie sich nochmals für das Magazin fotografieren, diesmal zusammen mit ihrer damals 24-jährigen Tochter Ticiane. „Es fiel mir leichter, obwohl ich eine reife Frau war und manch einer das vielleicht unschicklich findet. Ich habe meine Tochter nur angeschaut und gedacht: Du bist so schön. Die Jugend ist alles!“ Auf dem Titelfoto verdeckt sie mit der Hand die Scham der Tochter. „Da steckt eine Menge Symbolik drin“, sagt sie und stockt einen Moment, „ich beschütze meine Tochter. Sicher anders als meine Mutter damals bei mir, und dennoch vergleichbar.“


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mare No. 67

No. 67April / Mai 2008

Von Christoph Wöhrle

Christoph Wöhrle, Jahrgang 1979, ist freier Journalist und lebt in Berlin. Er ist als Reporter weltweit im Einsatz. Brasilien hat es ihm besonders angetan. Hier hat er ein Semester studiert.

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Vita Christoph Wöhrle, Jahrgang 1979, ist freier Journalist und lebt in Berlin. Er ist als Reporter weltweit im Einsatz. Brasilien hat es ihm besonders angetan. Hier hat er ein Semester studiert.
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