Das letzte Ufer

Wasser ist wohl mehr als bloß ein Leben spendendes Element. Es hat eine Magie, die seit je unerklärlich scheint

Wenn sich der Mensch mit seinem Dasein beschäftigt, darüber nachdenkt, davon spricht, ihm durch Gleichnisse, Sinnbilder und Texte einen Sinn zu geben versucht und sich mit seiner Befristung auseinandersetzt, kommt immer wieder das Wasser ins Spiel.

Kaum etwas ist uns so selbstverständlich wie das Wasser, ohne das wir nicht sein können, und wie die Zeit, deren Kontinuum wir nicht zu entkommen vermögen – und kaum etwas anderes ist ähnlich rätselhaft, beunruhigend und letztlich niederschmetternd wie die Ohnmacht, mit der wir ihr ausgeliefert sind. Die Zeit vergeht, und wir vergehen mit ihr.

Die Zeit verrinnt – in diesem Wort und Bild liegt etwas Urtümliches, ein altes Menschheitswissen, viel älter noch als die Erkenntnis des Heraklit, dass alles fließt. Auch in dem Gedanken, das Leben sei ein langer, ruhiger Fluss, schwingt diese Idee mit, angereichert allerdings mit etlichen tröstlichen Tropfen jener neuzeitlichen Modespiritualität, die uns suggeriert, dass letztlich alles gut wird, obschon in Wahrheit jeder um das schreckliche Ende weiß.

Wir entstammen bekanntlich, wie alles Lebendige, ursprünglich dem Meerwasser, und es ist auch das Wasser, das den größten Teil unserer körperlichen Existenz ausmacht. Wasser bedeckt mehr als zwei Drittel der Oberfläche unseres Planeten, und macht uns in Wahrheit alle zu Insulanern. Das Wasser der Meere ist in uns und um uns. Aber dieses Faktum beschränkt sich nicht allein aufs Physikalische. Das Wasser ist nicht nur jenes Element, aus dem wir kommen und aus dem wir sind und das wir als Überlebensstoff benötigen wie keinen anderen; es ist zugleich auch die Ressource der menschlichen Lebensbilder.

Wasser, dieses wichtigste Lebensmittel überhaupt, jene Substanz, die am häufigsten auf unserem maritimen Planeten vorkommt, besteht in seiner molekularen Zusammensetzung aus zwei Teilen Wasserstoff und einem Teil Sauerstoff. Aber das ist wohl eben nicht alles. Der Dichter D. H. Lawrence befand: „Da ist noch ein Drittes, das erst macht es zu Wasser, und niemand weiß, was das ist.“ Die Magie des Wassers, sein gleichsam metaphorisches Gewicht offenbart sich in vielem – von den Mythen über die Literatur bis hin ins Banale.

Es scheint eine Art innere Wasseruhr zu geben, die den Rhythmus des menschlichen Daseins taktet und misst und nach der sich die gefühlte Zeit des Lebens ausrichtet. Tatsächlich machte sich der Mensch schon vor Tausenden Jahren, lange vor den Sonnenuhren und den Sanduhren, die Durchlaufgeschwindigkeit des Wassers mithilfe von eigens dafür konstruierten Gefäßvorrichtungen zunutze, um den Tag einzuteilen. Es ist bezeichnend, dass viele Menschen heute das Tropfen eines Wasserhahns nicht nur als störend, sondern als regelrecht beunruhigend empfinden. Das unablässige Plopp appelliert offenbar an Urängste vor der Macht des Wassers als der Instanz, die das Ablaufen der Zeit sinnlich wahrnehmbar werden lässt.

Schon das Entstehen jedes individuellen Lebens und sein Eintritt in diese Welt sind ja ganz konkret mit dem Wasser verbunden, dem Fruchtwasser im Uterus. Und im Tod geht es, wenigstens mythologisch, abermals um dieses existenzielle Element. Die alten Griechen kannten gleich mehrere Flüsse, die die Grenze zwischen den Reichen der Lebenden und der Toten markierten, allen voran Styx, nach Hesiod die Tochter des Okeanos, des Gottes allen Ursprungs und alles Gewässers, und der Tethys. Der Sage nach umfließt Styx den Hades, die Unterwelt, neunmal. Die Seelen der Verstorbenen werden von Charon, dem Fährmann, über diesen Fluss geschifft. Dem Leichnam steckt man eine Münze in den Mund als Lohn an den Fährmann für die Überfahrt.

Anfang und Ende des Lebens sind somit – biologisch wie mythologisch – jeweils mit Wasser konnotiert. Womöglich rühren aus diesen urtümlichen Zusammenhängen all die archetypischen Projektionen und Subtexte, die immer dann aufgerufen werden, wenn es um die Erfahrung unseres begrenzten Daseins geht, das sich – nur leicht überspitzt gesagt – zwischen Fruchtwasser und Todesgewässern ereignet. Das macht ihm das Meer, so einladend seine spiegelnde Fläche oft auch wirken mag auf den Betrachter, letztlich unheimlich. Von dem, was sich tatsächlich darunter und in seinen Tiefen verbirgt, wissen wir ja erstaunlich wenig. Und vielleicht reicht der Schlagschatten dieses Unwissens bis hin zu solchen Phänomenen wie das unglückselige Bermudadreieck, das angeblich Schiffe und Flugzeuge in seine Tiefen reißt, oder den zahllosen Legenden von unterseeischen Wassergeistern und Geisterschiffen, die auf ewig durch die Meere treiben. Die Ozeane sind von jeher ein ergiebiges Reservoir für Ängste und Fantasien jeder Art.


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mare No. 97

No. 97April / Mai 2013

Von Mathias Zschaler

Mathias Zschaler, Jahrgang 1947, ist freier Autor in Berlin. Nach vielen Jahren als Redakteur bei großen deutschen Tageszeitungen schreibt er überwiegend literarisch, aber auch weiterhin journalistisch, unter anderem für Spiegel Online. Seine mare-Beiträge erschienen bisher unter dem Namen Benjamin Worthmann. Die Idee für diesen Essay geht auf ein eher banales Erlebnis zurück – das nervtötende nächtliche Tropfen eines Wasserhahns.

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Vita Mathias Zschaler, Jahrgang 1947, ist freier Autor in Berlin. Nach vielen Jahren als Redakteur bei großen deutschen Tageszeitungen schreibt er überwiegend literarisch, aber auch weiterhin journalistisch, unter anderem für Spiegel Online. Seine mare-Beiträge erschienen bisher unter dem Namen Benjamin Worthmann. Die Idee für diesen Essay geht auf ein eher banales Erlebnis zurück – das nervtötende nächtliche Tropfen eines Wasserhahns.
Person Von Mathias Zschaler
Vita Mathias Zschaler, Jahrgang 1947, ist freier Autor in Berlin. Nach vielen Jahren als Redakteur bei großen deutschen Tageszeitungen schreibt er überwiegend literarisch, aber auch weiterhin journalistisch, unter anderem für Spiegel Online. Seine mare-Beiträge erschienen bisher unter dem Namen Benjamin Worthmann. Die Idee für diesen Essay geht auf ein eher banales Erlebnis zurück – das nervtötende nächtliche Tropfen eines Wasserhahns.
Person Von Mathias Zschaler