Das Leben ist ein langer Strand

Die Tropenmetropole hat ein Verhältnis zu ihren Stränden wie keine andere Meeresstadt. Sie sind ihren Bewohnern zugleich Salon wie Bühne für die Tragikomödie des Lebens. Ein Sittenbild von der Seeseite der schönsten Stadt der Welt

Jede Nacht hinterlässt er seine Spur. Eine endlose Linie im Sand, strichgerade, vier Meter breit, 100 Meter lang, eine präzise Kehrtwende, wieder eine Linie, geometrisch parallel zur ersten, dann eine neue Wende und so fort. Vom Sandsaum, wo der Atlantik züngelt, bis zur Promenade, auf der die schwarz-weißen Wellen des Pflasters plätschern. Kilometerweit, Paket neben Paket, liegen sie wie Mayazeichen auf dem Strand. Geharkt von einem Riesen, der mit Sturheit Ordnung zeichnet in die Große Unordnung. Nie ist er zu sehen. Es heißt, er sitze des Nachts singend auf einem roten Traktor, nenne sich Xico und trage die orange Weste der prefeitura.

Rio de Janeiro im Südwinter, fünf Uhr am Sonntagmorgen. Mit einem gleißenden Licht wie von Messers Schneide erhellt die Sonne über dem Zuckerhut die Sandsichel der Copacabana. Sie blitzt auf das Quecksilber des Atlantiks, die Wohntürme an der Avenida Atlântica, und in Sekunden raubt der Strahl die Farben, die in der Dämmerung noch zu sehen waren: das Rosa und Violett der gigantischen Granitparabeln, die der Stadt den Weg ins Hinterland zu verwehren scheinen, die tausend Grüns des Tijuca-Dschungels, der sich verlorenes Terrain zurückzuholen scheint, das Rost der Favelas, die die Felsenkegel zersetzen, das Grau des Erlösers auf dem Corcovado, der wie resignierend die Arme erhebt. Ein greller Schein, der die Erinnerung an das Gestern löscht.

Die Menschen in der schönsten Stadt der Welt erwachen aus ihren hitzigen Träumen. Schweißgebadet blinzeln sie aus den Fenstern, versichern sich an dem Rauschen in den Straßen ihrer Existenz, bekreuzigen sich in Richtung zum Erlöser und stecken ihre Füße in Joggingschuhe. Dann treten sie hinaus in die mangoschattigen Häuserschluchten und laufen nicht mehr als ein paar Blocks zum Strand ins erste Licht des Tages, denn in dieser Stadt hat es niemand weit bis an einen Strand.

Sieben Uhr, Rio rennt. Die Alten, langsam und mit gleichmütigem Ausdruck. Die Mütter, die sich mit gerecktem Kinn fit machen für die Anfeindungen der Ehe. Karrieristinnen, die ihre Meetings in Gedanken durchgehen. Schwule Paare, die ihre Körper konkurrenzfähig halten, die Marineinfanteristen, deren Drillgeschrei sie den Unsinn ihres Diensts vergessen lässt. Studenten, die sich mit iPods im Ohr Frust über die verpasste Liebeschance ablaufen. Schüler, die sich wachlaufen für die Herausforderungen der gefährlichsten Stadt der Welt. Es sind Hunderte und Hunderte, an jedem Morgen. Sie laufen hinaus auf die Avenidas, die Prachtstraßen am Meer, die Atlântica, die Delfim Moreira, die Vieira Souto, sie laufen von posto zu posto, den Lebensretterstationen am Strand von Copacabana, Ipanema und Leblon, je nach Kraft im 800-Meter-Maß von deren Abständen.

Noch sind die postos die Zählpunkte der Läufer. Später am Tag sind sie mehr als das. Dann sind sie Marken für die Strandabschnitte, Zugänge ins erweiterte Wohnzimmer der Cariocas, wie sich die Einwohner von Rio selbst nennen, „die in den weißen Häusern wohnen“ in der Sprache der alten Tupi-Indios. Sammelpunkte für die sozialen Gruppen in Rio, Identifikationsorte, Symbole für Rang und Lebensstil. Voneinander getrennt durch unsichtbare Grenzen. Die Strände in dieser Sechs-Millionen-Metropole auf dem Wendekreis des Steinbocks sind anders als in anderen Meeresstädten ein selbstverständlicher Lebensraum, die natürliche Erweiterung der Menschenbehausung, Arbeitsstätte, In- und Out-Zonen und Distinktionsfläche. Vor allem die beiden Halbmonde von Copacabana und von Ipanema und Leblon sind von nahezu allen Teilen Rios in einer Viertelstunde erreichbar.

Jetzt, in der Frühe, ist ein seltsames Geräusch zu hören, schwillt langsam an. Es scheppert und klingelt und rasselt in den Straßen, die zur Avenida Atlântica führen. Eine Armee zieht auf: die fliegenden Händler, die mit Rollwagen, Fahrradanhängern, Schubkarren ihre Ware an den Strand und die kioskos schaffen, die ihre fahrbaren Garküchen und Verkaufsstände unter den Palmen, die die Copacabana säumen, vor sich her schubsen, heute wie an jedem Tag in dieser Stadt. Es sind die camelôs, die Tausenden Strandverkäufer, die an Rios Stränden zur Arbeit gehen.

Nach den Läufern, nach den Händlern kommt die dritte Welle. Der Strom der Cariocas beginnt zu fließen, sie kommen in Scharen von überallher. Nur eine U-Bahn-Station reicht bis an die Copacabana, „Siqueira Campos“, sie spült im Minutentakt die Darsteller heran für die alltägliche göttliche Tragikomödie, die am Strand zur Aufführung kommt. Scheinbar immerwährend ergießt sich der Fluss aus dem Bauch der Stadt ans Tageslicht, ein paar Blocks nach Süden, immer nach Süden, denn hier ist das Wohnzimmer der Cariocas. Alle haben zu tragen, auch die Kleinsten, Kühlboxen und Badetücher, Klappstühle und Bodyboards, Sonnenschirme und mit Alufolie bedeckte Speisentabletts.


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mare No. 69

No. 69August / September 2008

Von Karl J. Spurzem und Francesco Zizola

mare-Redakteur Karl Spurzem, 49, hatte Not, in der Redaktion die Umstände der Recherchen an Rios Stränden ins rechte Licht zu rücken. Gerade einmal, frühmorgens an einem bleigrauen Tag, schaffte er es, ein Bad im Meer zu nehmen. Dafür entschädigte er sich mit nächtlichen Besuchen in traditionsreichen Sambaclubs.

Francesco Zizola, geboren 1962, genoss die Arbeit für mare in vollen Zügen. Der Römer, einer der führenden Reportagefotografen der Welt und Mitbegründer der Agentur Noor, kannte Rio bislang vornehmlich von seinen hässlichen Seiten: von Reportagen über die brutale Gewalt der Drogenkartelle in den Favelas.

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Vita mare-Redakteur Karl Spurzem, 49, hatte Not, in der Redaktion die Umstände der Recherchen an Rios Stränden ins rechte Licht zu rücken. Gerade einmal, frühmorgens an einem bleigrauen Tag, schaffte er es, ein Bad im Meer zu nehmen. Dafür entschädigte er sich mit nächtlichen Besuchen in traditionsreichen Sambaclubs.

Francesco Zizola, geboren 1962, genoss die Arbeit für mare in vollen Zügen. Der Römer, einer der führenden Reportagefotografen der Welt und Mitbegründer der Agentur Noor, kannte Rio bislang vornehmlich von seinen hässlichen Seiten: von Reportagen über die brutale Gewalt der Drogenkartelle in den Favelas.
Person Von Karl J. Spurzem und Francesco Zizola
Vita mare-Redakteur Karl Spurzem, 49, hatte Not, in der Redaktion die Umstände der Recherchen an Rios Stränden ins rechte Licht zu rücken. Gerade einmal, frühmorgens an einem bleigrauen Tag, schaffte er es, ein Bad im Meer zu nehmen. Dafür entschädigte er sich mit nächtlichen Besuchen in traditionsreichen Sambaclubs.

Francesco Zizola, geboren 1962, genoss die Arbeit für mare in vollen Zügen. Der Römer, einer der führenden Reportagefotografen der Welt und Mitbegründer der Agentur Noor, kannte Rio bislang vornehmlich von seinen hässlichen Seiten: von Reportagen über die brutale Gewalt der Drogenkartelle in den Favelas.
Person Von Karl J. Spurzem und Francesco Zizola