Das ist unser Land

Zwischen Sendungsauftrag, Größenwahn und Spätkolonialismus: Die skrupellose Vertreibung des Inselvolks der Chagos ist ein Tiefpunkt der politischen Ethik der USA und England

Es bedarf nicht vieler Worte, um einem Menschen, den das Schicksal in die Ferne getrieben hat, den fremden Boden unter den Füßen wegzuziehen. Ein stereotyper Satz, achtlos ausgesprochen, die feindselige Logik dessen, der auf der sicheren Seite lebt: „Gehen Sie doch zurück in Ihre Heimat, wenn es Ihnen hier nicht gefällt.“

Es ist dieser Satz, der in Sabrina Jean die kalte Wut hochsteigen lässt. Weil er in seiner brutalen Schlichtheit das Dilemma ihres Volkes so treffend zusammenfasst; weil sie es nicht glauben kann, dass sie, die seit 2002 einen britischen Pass besitzt, ihren offiziellen Landsleuten immer noch die Geschichte der Chagosinseln erzählen muss. Nach mehr als 50 Jahren, nach Prozessen vor den höchsten Instanzen des Vereinigten Königreichs, nach Auftritten vor den Vereinten Nationen und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, nach Hoffnung weckenden Urteilen und erschütternden Niederlagen, nach all den Parlamentssitzungen, begleitet von Demonstrationen, nach preisgekrönten Dokumentarfilmen, unzähligen Zeitungsartikeln und Fernsehinterviews, nach all der prominenten Unterstützung, zuletzt in einem Protestbrief von sieben Friedensnobelpreisträgern an den scheidenden US-Präsidenten Barack Obama.

„Sie wissen nichts.“ Nicht die Nachbarn in ihrem traurigen Wohnblock, nicht die Beamten in den Behörden in Crawley, West Sussex, mit denen sie um Jobs, Wohnungen und finanzielle Hilfe ringt für die Angehörigen ihres versprengten Volkes, die in Großbritannien auf eine bessere Zukunft hoffen. Nicht die Parlamentarier in London, die in ihren Reden die Fakten verdrehen. Auch Sabrina selbst musste die Versatzstücke der Wahrheit suchen, sucht bis heute, weil ihr Vater so wenig erzählt. Der Schmerz hat ihn zum Schweigen gebracht. Sabrina sagt: „Wir können nur ahnen, wie es sich anfühlt.“ Ihr Vater wartet seit einem halben Jahrhundert auf die Rückkehr in sein Paradies. Er war 17, als das Unglück seinen Anfang nahm.

Auf halbem Weg zwischen Afrika und Indonesien, mitten im Indischen Ozean, liegt der Chagosarchipel. 64 Koralleninseln, drei davon seinerzeit bewohnt von Abkömmlingen afrikanischer Sklaven, die Ende des 18. Jahrhunderts dorthin verschifft worden waren, um für die französischen und später britischen Kolonialherren Kokosplantagen zu bestellen. Die Plantagen lieferten nach dem Ende der Sklaverei weiter Arbeit, die Natur Fische und Früchte, blühende Gärten und Sonnenschein. Etwa 2000 Menschen führten dort ein friedliches Leben. Die Welt, die Mitte des 20.  Jahrhunderts nach einem verheerenden Zweiten Weltkrieg ihr Machtgefüge neu sortierte, war ihnen selten fern. Die Älteren konnten nicht lesen und schreiben, aber Fische mit den Händen fangen; jeden Samstag traf sich die Dorfgemeinschaft, sang und tanzte Sega bis in die frühen Morgenstunden. Viermal im Jahr fuhr ein Schiff zur 2230 Kilometer entfernten Insel Mauritius, die Passage dauerte mehrere Tage.

Wer seit 1968 dieses Schiff nahm, um sich im Krankenhaus von Mauritius behandeln zu lassen, Verwandte zu besuchen oder ein Kind auf der höheren Schule anzumelden, sollte nicht mehr zurückkehren. Ihre Heimat, so sagte man den Chagossians im Hafen von Port Louis, sei verkauft, die Reise dorthin nicht mehr möglich. Die Menschen auf den Inseln wurden gleichzeitig immer spärlicher versorgt, Krankenstationen und Schulen schlossen. Viele verließen die Heimat in ihrer Not dann freiwillig und hofften, es sei nur vorübergehend. Erklärungen gab es keine.

Im Januar 1971 teilte der Direktor der Plantage den verbliebenen Bewohnern der Hauptinsel Diego Garcia mit, dass der Betrieb geschlossen werde und keiner mehr auf den Inseln leben könne. Nach und nach wurden sie abtransportiert, Häuser, Boote, Hab und Gut blieben zurück, im August 1971 verließ das letzte Schiff die Inseln. Die Hunde der Bewohner wurden zum Abschied vor ihren Augen vergast. Eine Kiste Gepäck war jedem erlaubt, die Schiffe waren überfüllt, die Überfahrt verbrachten sie unter erbärmlichen Bedingungen an Deck, zwischen Pferden, den letzten Ladungen an Kokosnüssen und den Gerätschaften der Plantage.

Clifford Volvrin war als Kind auf einem der Boote. Wenn er spricht, bleibt sein Blick auf den Fernseher gerichtet, der vor ihm auf dem Küchentisch steht; die Wohnung, die der 54-Jährige in Crawley bewohnt, ist winzig. Hinter einer Milchglaswand bereitet seine Frau das Essen zu, über den Bildschirm flimmern Musikvideos, die Beach Boys singen dazu – es klingt wie ein höhnischer Kommentar auf das, was Volvrin mit leiser, bedächtiger Stimme in Kreol erzählt: „Unser Leben auf der Insel war leicht. Ich hatte einen Hund, mit dem ich fischen ging, er war ein besserer Fischer als ich. Ich liebte das Meer. Das englische Meer ist kein Meer für mich.

Mein Vater war Mechaniker, wir hatten ein Haus mit Garten, zogen Gemüse, hielten Hühner und Enten. Wir Kinder durften draußen spielen bis spät in die Nacht. Ich war zehn, als sie uns eines Nachmittags mit Waffen auf das Schiff trieben wie Tiere. Wir mussten Stunden ausharren. Erst abends liefen wir aus, es war dunkel, nach wenigen Metern schon konnte ich meine Insel nicht mehr sehen. Ich habe kein Auge zugetan, sah jemanden zwei Körper über Bord werfen, sie sagten, ich solle verschwinden. Wir waren sieben Tage auf dem Meer. Keiner hat uns gesagt, warum wir nicht mehr auf unserer Insel leben durften.“ 


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mare No. 122

No. 122Juni / Juli 2017

Von Martina Wimmer und Zed Nelson

mare-Redakteurin Martina Wimmer war bei den Recherchen vor allem beeindruckt davon, mit welcher Freundlichkeit CRG-Vorsitzende Sabrina Jean ihre fünfköpfige Familie, den politischen Kampf und die Betreuung von Senioren gleichzeitig bewältigt.

Zed Nelson lebt als vielfach preisgekrönter Dokumentarfotograf in London und ist in Sammlungen in aller Welt vertreten. Er sagt: „Die Vertreibung der Chagossians ist mehr als verstörend. Sie ist ein Verbrechen.“

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Vita mare-Redakteurin Martina Wimmer war bei den Recherchen vor allem beeindruckt davon, mit welcher Freundlichkeit CRG-Vorsitzende Sabrina Jean ihre fünfköpfige Familie, den politischen Kampf und die Betreuung von Senioren gleichzeitig bewältigt.

Zed Nelson lebt als vielfach preisgekrönter Dokumentarfotograf in London und ist in Sammlungen in aller Welt vertreten. Er sagt: „Die Vertreibung der Chagossians ist mehr als verstörend. Sie ist ein Verbrechen.“
Person Von Martina Wimmer und Zed Nelson
Vita mare-Redakteurin Martina Wimmer war bei den Recherchen vor allem beeindruckt davon, mit welcher Freundlichkeit CRG-Vorsitzende Sabrina Jean ihre fünfköpfige Familie, den politischen Kampf und die Betreuung von Senioren gleichzeitig bewältigt.

Zed Nelson lebt als vielfach preisgekrönter Dokumentarfotograf in London und ist in Sammlungen in aller Welt vertreten. Er sagt: „Die Vertreibung der Chagossians ist mehr als verstörend. Sie ist ein Verbrechen.“
Person Von Martina Wimmer und Zed Nelson