Das Herz voll Auflehnung

Anfang des 17. Jahrhunderts wird ein Hexensohn aus Shakespeares Drama „Der Sturm“ zu einer populären Figur. Caliban, der triebhafte Ureinwohner einer Verbannteninsel, ist im beginnenden Zeitalter des Kolonialismus vielgedeutetes Symbol des mal edlen

Nach Cromwells Sieg im englischen Bürgerkrieg ließen die Puritaner, die in jeder weltlichen Aktivität den Teufel wirken sahen, die Theater schließen; auch William Shakespeares Schauspielgruppe, die über dessen Tod 1616 hinaus bestanden hatte, wurde aufgelöst. Als nach der Wiederherstellung der Macht der Stuarts im Jahr 1660 Theater wieder geöffnet wurden, waren alle Darsteller der Truppe tot und damit das Wissen verloren, wie seine Stücke einst aufgeführt worden waren.

Im selben Jahr gründete William Davenant eine Truppe, der das alleinige Recht zugesprochen wurde, neun Theaterstücke Shakespeares, darunter „Der Sturm“, des Dramatikers mutmaßliches letztes, aufzuführen.

In diesem Stück, wohl 1611 in London uraufgeführt, lässt gleich zu Beginn ein Sturm, durch die Zauberkraft des Helden Prospero entfesselt, Alonso, den König von Neapel, und Antonio, den Herzog von Mailand, samt ihrem Gefolge Schiffbruch erleiden und auf einer einsamen Insel stranden. Prospero war einst selbst Herzog von Mailand, aber sein intriganter Bruder Antonio entmachtete ihn und verbannte ihn samt Tochter Miranda auf ebenjene Insel. Dort dienen ihm nun die Inselbewohner Caliban, der missgestaltete Sohn einer Hexe, und der Luftgeist Ariel. Prospero versagt sich die Rache an den Feinden – zwar müssen die Schiffbrüchigen Qualen leiden, aber am Ende werden sie begnadigt. Höhepunkt der Versöhnung und Ausweis von Prosperos Macht ist Mirandas Verlobung mit Ferdinand, Alonsos Sohn.

1667 brachte William Davenant eine Neubearbeitung auf die Bühne: „The Tempest; or: The Enchanted Isle“. Was nun die Figur angeht, die uns im Weiteren wesentlich interessieren soll, nämlich der Hexensohn Caliban, so ist dieser in „The Enchanted Isle“ ein lüsterner Trunkenbold, der ein inzestuöses Verhältnis zu seiner – von Davenant hinzugefügten – ebenso monströsen Schwester hat. Caliban wurde zum tumben Unhold reduziert, und seine tragende Rolle im Gefüge des Stückes hatte Davenant einem neu geschaffenen Charakter übertragen, Hippolito, der sowohl dem Ungetüm Caliban gegenübersteht als auch in seiner Reinheit und Unschuld den männlichen Gegenpart zu Miranda bildet.

Abgesehen von wenigen Änderungen blieb Davenants „Enchanted Isle“ im 18. Jahrhundert die einzige gespielte Variante des „Sturmes“ und Caliban somit die triebhafte Bestie. Das änderte sich erst, als zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Romantiker sowohl Shakespeares Bedeutung als Dramatiker als auch dessen originale Version des „Sturmes“ wiederentdeckten.

Eine Veränderung in der Interpretation der Figur des Caliban resultierte auch aus Darwins Evolutionstheorie. Der schottische Gelehrte Daniel Wilson bezeichnete 1873 Caliban als „missing link“ zwischen Mensch und Affe, mit der Folge, dass bis ins 20. Jahrhundert Caliban in den „Sturm“-Inszenierungen als Affenmensch auftrat, als Urahn des Menschen auf dem Weg vom animalischen Zustand zur Zivilisation, lernbegierig und, auch im moralischen Sinn, entwicklungsfähig. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfestigte sich das Bild von Caliban, das bis heute Bestand hat: Caliban steht nun sinnbildlich für die kolonialisierten, vom europäischen Imperialismus unterdrückten und nach Unabhängigkeit strebenden Völker.

Andererseits wurde der „Sturm“ als literarische Studie der Kolonialisierung der Neuen Welt betrachtet. Insbesondere gebe es Parallelen zu Geschehnissen in Englands amerikanischen Kolonien des frühen 17. Jahrhunderts. Und wenn Prosperos Insel ein Abbild Amerikas sein sollte, dann war Caliban folglich Shakespeares Porträt eines amerikanischen Eingeborenen.

1607 gelang es der Virginia Company of London, die erste dauerhafte Siedlung in Nordamerika zu gründen: Jamestown. Natürlich war das Interesse der Virginia Company an der Neuen Welt geschäftlicher Natur. Sie versuchte jedoch Freiwillige für die Besiedlung Virginias zu gewinnen, indem sie in ihren Flugschriften vor allem religiöse Argumente hervorhob, den Auftrag zur Verbreitung des Protestantismus. Der missionarische Eifer und die naive Vorstellung der Siedler von den Ureinwohnern verflogen schnell. Eingeschlossen hinter den Palisaden ihrer Siedlungen, glaubten sie, die als „auserwähltes Volk“ zur Urbarmachung in die Neue Welt gekommen waren, besonders ihre mitgebrachten Frauen vor den indianischen Lüstlingen beschützen zu müssen.

Der Ton in den Werbeschriften der Virginia Company änderte sich. Die Indianer, keineswegs bekehrungswillig und unterwürfig, wurden nun als „human beasts“ bezeichnet, die zu bekehren keinen Zweck hätte; die Missionierung sollte durch ein gewaltsameres Vorgehen ersetzt werden. Was jetzt folgte, war ein Feldzug gegen die indigene Bevölkerung, ihre – je nach Maß der Gegenwehr – Versklavung oder Ausrottung.


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mare No. 92

No. 92Juni / Juli 2012

Von Adrian Stiglbauer

Adrian Stiglbauer, Jahrgang 1969, ist Literaturwissenschaftler und Dozent in Wildau und Berlin. Die Idee, nach antiken Vorbildern Calibans zu suchen, kam ihm, als sein Sohn die Figur des Polyphem in einem Odyssee-Hörbuch für sich entdeckte.

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Vita Adrian Stiglbauer, Jahrgang 1969, ist Literaturwissenschaftler und Dozent in Wildau und Berlin. Die Idee, nach antiken Vorbildern Calibans zu suchen, kam ihm, als sein Sohn die Figur des Polyphem in einem Odyssee-Hörbuch für sich entdeckte.
Person Von Adrian Stiglbauer
Vita Adrian Stiglbauer, Jahrgang 1969, ist Literaturwissenschaftler und Dozent in Wildau und Berlin. Die Idee, nach antiken Vorbildern Calibans zu suchen, kam ihm, als sein Sohn die Figur des Polyphem in einem Odyssee-Hörbuch für sich entdeckte.
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