Das Grauen der „Mignonette“

Eine außergewöhnliche menschliche Katastrophe auf einem britischen Segelschiff hatte eine berühmte romanhafte Vorlage

Diese unglaubliche und komplett erfunden wirkende Geschichte ist wahr, auch wenn sie mit einer echten Narretei be­ginnt, nämlich einem Roman, Edgar Allan Poes „Die Geschichte des Arthur Gordon Pym aus Nantucket“. Das soll aber nicht davon ablenken, dass es sich insgesamt um einen Tatsachenbericht handelt, der einige höchst bizarre Zufälle und schaurige Details ausbreitet. Es geht um einen Mord auf hoher See – von Pech zu reden ist in diesem Zusammenhang glatt untertrieben. Am Ende sorgt erst ein ­Faible für übersinnliche Wahrnehmung und das Paranormale dafür, dass die verschiedenen Fäden zu einem Knoten werden. 

Der Roman erscheint 1838. Darin erzählt Arthur Gordon Pym aus seinem abenteuerlichen Leben. Eine vermeintliche Beichte, widerwillig ausgebreitet, weil das Publikum es „nur als unverfrorene und witzige Erfindungen betrachten würde“, wie es gleich am Anfang heißt. Angekündigt werden „schreckliche Erleidnisse unter Verschmachtungserscheinun­gen“. Pym gerät auf einen Walfänger, die Brigg „Grampus“, auf dem eine Meuterei ausbricht. Bald zerstört ein Sturm das Schiff, zu viert halten sie es auf dem Wrack aus, tauchen nach Proviant und versuchen zu überleben. Sie leiden ohne Wasser und Nahrung, sehen im Wahn rettendes Land und Schiffe, kauen Leder. 

Nach etlichen Tagen ohne Essen und Trinken schlägt der Matrose Peters mit einem grimmigen Gesichtsausdruck vor, „dass einer von uns sterben solle, damit die andern ihr Dasein fristen“. Pym ist entsetzt. Sie debattieren, streiten, kämpfen miteinander. Aber dann hält Pym vier Holzsplitterchen hoch. Die anderen drei Männer haben die Wahl. Ein ehemaliger Meuterer zieht den Kürzeren, Richard Parker. Er wird sofort erdolcht. „Ich muss auf dem schrecklichen Imbiss nicht verweilen, der sich unverzüglich anschloss. Dergleichen Szenen kann man sich allenfalls vorstellen.“ Sie trinken das Blut, werfen Hände, Füße, Kopf und Eingeweide ins Meer. Den Leib essen sie über vier Tage. Später erreichen die drei doch die Vorratskammer des Wracks und finden unter anderem eine Schildkröte, die sie essen. Einer von ihnen stirbt bald an Wunden, Pym und Peters werden gerettet, ein Schiff, die „Jane Guy“ aus Liverpool, nimmt sie auf. Das geschieht nach etwa der Hälfte des Buchs. 

Poe hatte für den Roman Berichte über „Gebräuche der See“ gelesen, darunter womöglich von dem Walfänger „Essex“ aus Nantucket, der 1820 von einem Wal gerammt wurde und unterging, mit Matrosen in Ruderbooten, die durch Kannibalismus am Leben geblieben waren. „Arthur Gordon Pym“ ist, wie zunächst alle Bücher Poes, kein Erfolg. Es dauert lange, bis ­seine Qualitäten entdeckt werden. – Nun aber Schluss mit Literatur und Erfindung.

 Gut 46 Jahre nach dem Erscheinen des Romans segelt in Southampton, England, die Yacht „Mignonette“ los, ein 16 Meter langer Segelkreuzer. Ein Australier hatte das Schiff gekauft, es soll an seinen Zielhafen gebracht werden, Sydney. Vier Mann Besatzung treten am 19. Mai 1884 die Reise an. Kapitän Tom Dudley, 32, Maat Edwin Stephens, 37, Matrose Edmund Brooks, 37, und ein 17 Jahre alter Schiffsjunge. Nach zwei Monaten segeln sie etwa 2600 Kilometer nordwestlich des Kaps der Guten Hoffnung, als die See stürmisch wird. Der Kapitän dreht bei, damit sie die Nacht über ruhig schlafen können. Aber eine Welle trifft die Yacht, reißt große Teile fort. In Minuten sinkt die „Mignonette“, die vier Männer springen in das Rettungsboot. 

Es ist der 5. Juli. Kapitän Dudley kann das etwa vier Meter große Dingi mithilfe eines Treibankers stabilisieren, aber die Holzwände sind dünn, bei der Aktion ist ein Leck entstanden. Sie haben nautische Instrumente dabei, zwei Dosen mit Rüben, von denen sie gedacht hatten, es seien Fleischkonserven, aber kein zusätzliches Wasser. In der ersten Nacht wehren sie Haie mit den Rudern ab. 

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mare No. 157

mare No. 157April / Mai 2023

Von Holger Kreitling

Holger Kreitling, Jahrgang 1964, las viel von Edgar ­Allan Poe während und nach dem Abitur. Er freut sich sehr, dass seine Lobpreisung des Werks in der „Welt“ in Auszügen in Schulbüchern steht – und für Prüfungen benutzt wird.

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Vita Holger Kreitling, Jahrgang 1964, las viel von Edgar ­Allan Poe während und nach dem Abitur. Er freut sich sehr, dass seine Lobpreisung des Werks in der „Welt“ in Auszügen in Schulbüchern steht – und für Prüfungen benutzt wird.
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Vita Holger Kreitling, Jahrgang 1964, las viel von Edgar ­Allan Poe während und nach dem Abitur. Er freut sich sehr, dass seine Lobpreisung des Werks in der „Welt“ in Auszügen in Schulbüchern steht – und für Prüfungen benutzt wird.
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