Das Ende von Russland

Auf Kola, der einsamen Rohstoff- und Militärhalbinsel in Russlands Arktis, verlassen sich die Menschen nicht mehr auf Moskau

„Ich hab davon gehört“, sagte ich ausweichend und lächelte. „Ich hab davon gehört!“, rief er süffisant, während er gastfreundlich meinen Koffer übernahm. „Möglicherweise haben Sie Ihr Leben umsonst gelebt, Sie sind ja gar nicht auf dem Laufenden! Darf ich mich vorstellen: Ich bin Sascha!“

Denkt man an die Halbinsel Kola, schießen einem massenhaft Assoziationen und Begriffe durch den Kopf: Mythos, ­Fantasie, Utopie, Wildheit, Nordlichter, Schlamm, Abertausende von unterirdi schen Mineralien, Reichtum, Verfall, Militärbasen, Kälte, die bis in die Knochen kriecht, Lachs. Samen, Pomoren, Pomorinnen, kurz – ikonenhaftes Volk. Die Flut von Eindrücken haut einen um. Die Halbinsel Kola gleicht einem riesigen Felsblock, der jenseits des Polarkreises über einem schmalen Streifen des Weißen Meeres hängt. Allein ihre Form lässt die Herzen derjenigen höherschlagen, die einem alternativen Geschichtsbild anhängen. Denn nicht in Afrika, sondern gerade hier befinde sich, so ihre spleenige Theorie, die Wiege der Menschheit, das erste Weltreich – Hyperborea. Dort hätten vier Meter große Riesen gelebt, und Felsbrocken gab es, die aussehen wie die Halbinsel Kola, auf kleinere Steine gelegt. Diese seltsamen Ge­ bilde, die an riesige Karren auf Rädern er­innern, seien ihre heiligen Altäre, Kult stätten – kurzum, die Sieidis gewesen! Und wer das nicht glauben will, ist ein Dummkopf! So jedenfalls sehen das die heutigen Anhänger der Hyperboreer.

Genauer gesagt, so sieht das ihr gemäßigter Flügel. Die radikalen Bewunderer der arktischen Riesen sind sich sicher, die Hyperboreer seien die Urväter der Menschheit gewesen, jene Arier, die im Grunde Slawen waren – die höchste ­Rasse, die Herren der Welt. Doch die seien zerschlagen worden durch weltweite Kleingeistigkeit, tot­ge­schwie­gen durch allerorts herrschende Pseudo­wissenschaft, zu einem Nichts reduziert durch die jüdische Weltverschwörung. All dem haftet natürlich ein übler Ge­ruch an, nicht zuletzt, weil eines der Sym­bole für die heidnische Größe der Hyperboreer nach Ansicht ihrer Verehrer das Hakenkreuz war, allerdings gegen den Uhrzeigersinn gedreht.

Wenn man sich die Karte genauer anschaut, ähnelt Kola aber auch einem ­riesigen Zeugungsorgan, dick und mächtig ragt es bedrohlich über dem Weißen Meer auf. Was dieser deftige geografische Hinweis bedeutet, ist schwer zu sagen. Meiner Meinung nach kann er ebenso eine Metapher für hyperboreische Kraft sein wie auch ein beleidigendes Zeichen für die Verehrer der Hyperboreer: Lasst uns bloß in Ruhe mit eurem Quatsch!

Ich war einem Verehrer von Hyper­borea in die Fänge geraten. Sascha, ein strammer Bursche, energisch, von kräftiger Physis wie ein Nachfahre der Gigan ten, zugleich aber schwächlich wirkend, mit dem verstörten Blick des armseligen putinschen Staatsbeamten. Unablässig versuchte er mich zu gewinnen, indem er buchstäblich in jeder Kombination von in der Tundra verstreuten Steinen geheimnisvolle Werke der großen Vorfahren sah.

Statt geradewegs ans Eismeer zu fahren, ließ er den Chauffeur Wolodja mitten in der Tundra bei ebensolchen Steinformationen anhalten. Ganz höflicher Tourist, trabte ich um die Steine herum, wobei ich im Schnee versank und tiefe Spuren hinterließ. Ich musste mich an den Felsblock lehnen und in dem Ganzen ein rituelles Muster sehen. Dann sollte ich darunterkriechen, mich ein wenig ducken und Energie aufladen, indem ich meinen Rücken an den Stein drückte. Die Fortsetzung brockte ich mir selbst ein, indem ich naiv fragte: „Und wie haben diese Hyperboreer solche Felsblöcke transportiert?“

Ich wurde mit einem Schwall von Erklärungen überschüttet. Offenbar waren sie nicht nur Kraftpakete, sondern sie konnten mithilfe einer inzwischen ver­gessenen Methode nach Belieben die Schwerkraft verringern und so Steine wie Flaumfedern umhertragen. Dann folgten blühende Fantasien, denen ich entnahm, dass die Hyperboreer die Vorfahren einer antiken Zivilisation gewesen seien.

Alle diese Offenbarungen wechselten ab mit Beschreibungen des Klimas in alten Zeiten, das auf der Halbinsel Kola ähnlich dem subtropischen mediterranen ge­wesen sei, und hernach habe eine Ver­glet­scherung eingesetzt. Aber Zug­vögeln sei das nördliche Paradies auf Erden sehr im Gedächtnis haften geblieben, und deshalb verbrächten sie jedes Jahr hier auch ihre Sommerferien.

Ich blickte in die Runde zu meinen anderen Begleitern. Wolodja am Lenk­ rad schwieg beipflichtend, offenbar im Bewusstsein seiner Bedeutung als Nachfahre der Hyperboreer. Der Moskauer Künstler, der als Tourist an diesem Tag zusammen mit uns in der Tundra war, sah Sascha mit wachsenden Hassgefühlen an –  er war von Haus aus Biologe und ließ okkulte Fantasien nicht an sich heran. Und Sergej, sozusagen mein Schutzengel aus Murmansk, der mich begleiten und mir bei Unterkunft und Transport behilflich sein sollte, nahm äußerlich eine neutrale Position ein. Er war im Hotelgewerbe tätig, und die fantastische Geschichte der Hyperboreer half ihm, Touristen hierherzulocken. Aber jetzt nahm ich endlich die Zügel in die Hand, und sobald wir diese rätselhaften Felsblöcke hinter uns gelassen hatten, bat ich als Gast aus Moskau darum, nun direkt zum Eismeer gefahren zu werden.

Auf dem Weg dorthin, der schlechter und schlechter wurde, begegneten uns auf den mit dürren arktischen Bäumchen bestandenen Feldern, auf Hügeln und in Sümpfen zahlreiche Felsblöcke in verschiedenen Lagen und Anordnungen – der Biologe knurrte, das sei alles das Ergebnis von Verschiebungen durch prähistorische Gletscher. Ich beschloss, nicht weiter zu diskutieren, und blickte schweigend aus dem Fenster des Kleinbusses.


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mare No. 137

No. 137Dezember 2019 / Januar 2020

Von Viktor Jerofejew und Céline Clanet

Viktor Jerofejew, Jahrgang 1947, führender russischer Schriftsteller, Essayist und Kosmopolit, war auf seiner Reise über die Halbinsel Kola vor allem davon beeindruckt, dass die Menschen aufgehört haben, sich an den Staat zu klammern. „Man könnte es eine geologische Verschiebung nennen.“

Céline Clanet, Jahrgang 1977, lebt als Fotografin in ­Paris. Über fünf Jahre arbeite sie an dem Fotoprojekt über die russische Halbinsel. „Kola“ ist als Buch ­erschienen, herausgegeben von Éditions Loco, Paris.

Aus dem Russischen von Beate Rausch

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Vita Viktor Jerofejew, Jahrgang 1947, führender russischer Schriftsteller, Essayist und Kosmopolit, war auf seiner Reise über die Halbinsel Kola vor allem davon beeindruckt, dass die Menschen aufgehört haben, sich an den Staat zu klammern. „Man könnte es eine geologische Verschiebung nennen.“

Céline Clanet, Jahrgang 1977, lebt als Fotografin in ­Paris. Über fünf Jahre arbeite sie an dem Fotoprojekt über die russische Halbinsel. „Kola“ ist als Buch ­erschienen, herausgegeben von Éditions Loco, Paris.

Aus dem Russischen von Beate Rausch
Person Von Viktor Jerofejew und Céline Clanet
Vita Viktor Jerofejew, Jahrgang 1947, führender russischer Schriftsteller, Essayist und Kosmopolit, war auf seiner Reise über die Halbinsel Kola vor allem davon beeindruckt, dass die Menschen aufgehört haben, sich an den Staat zu klammern. „Man könnte es eine geologische Verschiebung nennen.“

Céline Clanet, Jahrgang 1977, lebt als Fotografin in ­Paris. Über fünf Jahre arbeite sie an dem Fotoprojekt über die russische Halbinsel. „Kola“ ist als Buch ­erschienen, herausgegeben von Éditions Loco, Paris.

Aus dem Russischen von Beate Rausch
Person Von Viktor Jerofejew und Céline Clanet