„Das Boot“: Der vierte Mann

Vier Männer segeln 1949 von Hamburg nach Rio. Unerkannt an Bord ist ein einstiger U-Boot-Kommandant – „der Alte“, dem der Spielfilm „Das Boot“ später ein Denkmal setzt

Es ist ein schönes Haus, das da am Isekai steht. Unversehrt thront es inmitten der Trümmer. Hamburg im Jahr 1946, die Stadt ist nach dem Krieg zerbombt, zerschossen. Britische Soldaten patrouillieren auf den Straßen. Eine Million Menschen leben zusammengepfercht auf engstem Raum, 150 000 Obdachlose hausen in Baracken. Es ist die Zeit des Kohlenklaus und Schwarzmarkts, die Menschen ausgemergelt, krank, vom Krieg gezeichnet. Das Haus hat einen großen Eingang, vier Etagen, Stuck. Es ist gut in Schuss, als der Hamburger Ado Nolte es unverhofft erbt. Nolte ist 22 Jahre alt. Ein kräftiger junger Mann, zwei Meter groß, tiefe Stimme. Er weiß nicht recht, was er mit seinem Leben machen soll. Eine Kaufmannslehre? Vielleicht nach Wien zur Schauspielschule? Adonias Nolte, so werden Verwandte später sagen, war ein Abenteurertyp. Er suchte die Weite. In späteren Jahren lebte er mal am Starnberger See. Aber er konnte dort nicht weit genug blicken. Bald zog er wieder fort.

In den Jahren nach 1946 geht Hamburg gebeugt seinen Weg. Graugesichtig und in Lumpen hocken die Menschen auf den Tauschmärkten. Aus der Sowjetunion strömen die Kriegsgefangenen zurück in die Heimat, schweigende Schatten auf Krücken. In den Kammerspielen wird Wolfgang Borcherts Heimkehrerdrama „Draußen vor der Tür“ uraufgeführt.

Nolte interessiert das alles nicht. Er hat einen Traum, der ihm nicht aus dem Kopf gehen will. Einen Traum, den viele haben. Raus aus Deutschland. Ein neues Leben. Ado Nolte wünscht sich nach Brasilien. Da ist es warm, es gibt Essen, Früchte, Palmen, Mädchen, den Zuckerhut. Und er will segeln. Er ist schon immer gesegelt. In kleinen Jollen auf der Elbe, als Knirps, als Jugendlicher. Ja, Südamerika soll es ein! Ado Nolte lebt zu dieser Zeit noch immer in Hamburg-Winterhude, in der Gryphiusstraße. In das weiße Haus zieht er nicht ein. Er verkauft es. Was ist schon ein Haus gegen das Meer?

Hamburg, Frühjahr 2008. Ein Vorort unweit der Elbe. Jutta Nolte, 70, sitzt an ihrem Esstisch und erzählt. Von ihrem Mann Ado, der vor sechs Jahren gestorben ist. 1959 hatte sie ihn kennengelernt, sie war damals Stewardess bei der Lufthansa. Sie kennt seine Geschichte, seinen Lebensweg. Nur über seine Wochen auf See, damals nach dem Krieg, hat ihr Ado nie viel geredet. Kaum Dokumente, kaum Erinnerungen. Jutta Nolte breitet eine große Karte auf dem Tisch aus, eines der wenigen Zeugnisse, die von der vergessenen Reise ihres Mannes übrig geblieben sind. Die Karte knistert beim Auseinanderfalten wie frisches Holz auf einem Lagerfeuer. Es ist keine gewöhnliche Seekarte. Sie ist von Hand gezeichnet, auf einem riesigen Bogen Brotpapier, wie man es nach dem Krieg benutzte, bräunlich, leicht transparent. Mit Bleistift ist fast der gesamte Atlantik umrissen. Die Deutsche Bucht, die zerfransten Küsten Großbritanniens, Spanien, Afrika, die Kanaren, die Kapverdischen Inseln, die Ostküste Südamerikas bis nach Bahia Blanca im Süden. Die Seegebiete sind in gestrichelten Quadranten eingezeichnet, Längengrade, Breitengrade. Ganz oben links, bei Neufundland, der sauber geschriebene Vermerk: „Oktober, 1 mm Windpfeil entspricht 2 Prozent.“ Darunter Pfeile für die Meeresströmungen. Richtung und Stärke in Federn und Zacken, dazu entsprechende Knotenangaben.

Ein, zwei Bleistifte müssen dieser Karte geopfert worden sein. Sie wimmelt vor Windangaben, nautischen Symbolen, Etmalen. Mit blauem Buntstift sind die Grenzen des Nordostpassats eingezeichnet, mitten über die Karte zieht sich eine rote Linie: die Seestrecke von Deutschland bis nach Rio de Janeiro. Unten rechts der letzte Vermerk: „75 Seetage, 7844 Seemeilen.“ In Etmalen. Eine solche Karte konnte keiner zeichnen, der nur auf der Elbe gesegelt war. Diese Karte konnte nur zeichnen, wer den Atlantik wie seine Westentasche kannte. „Der Heinrich“, sagt Jutta Nolte.

Sommer 1947. Ado Nolte hat für das Haus der Eltern Geld bekommen. Es ist nicht viel, aber genug für seinen verrückten Traum. Verrückt? Was ist schon verrückt nach diesem Krieg? Ado Nolte will sich eine Yacht bauen lassen. Eine große, schöne Yacht. Seetüchtig soll sie sein, schnell und geräumig genug, um auf ihr zu leben.

Eine Segelyacht nach dem Krieg zu bauen ist nicht leicht. Die Menschen haben andere Sorgen, die Werften müssen beim Wiederaufbau der Städte helfen. Ado Nolte hört sich um, er kennt Leute in den Hamburger Yachtclubs. „Geh nach Eckernförde“, raten sie ihm, „geh zur Siegfried-Werft. Die bauen dir deine Yacht.“

Ado Nolte nimmt sein Geld und fährt nach Eckernförde. Und tatsächlich, die Werft sagt zu. Sie werden ihm eine Yacht bauen, aber er muss selbst mit anpacken. Bald diskutieren sie Pläne, den Riss der Yacht, den Innenausbau. Sie legen die Segelgrößen fest, das Gewicht des Kiels, die Anzahl der Kojen. Ado Nolte kauft Holz, er fährt es mit einem Trecker zur Werft. Der Traum nimmt Gestalt an. Fast zwei Jahre dauert der Bau der Yacht. Als sie fertig ist, steht sie vor der Werfthalle: das Haus am Isekai – umgewandelt in eine seetaugliche, weiße Schönheit. Es ist eine 14 Meter lange Yawl mit Besanmast, gebaut nur aus Holz: Fichte, Eiche, Teak. Die Aufbauten sind flach, der Rumpf schlank. Die Yacht besitzt Baumwollsegel, sechs Kojen, eine kleine Kombüse und einen Diesel. 1948 geht das Schiff zu Wasser, Korken knallen. Die Yacht trägt den Namen „Magellan“. Ado Nolte verholt sein neues Boot an die Elbe, immer wieder unter staunenden Blicken. Wer drei Jahre nach dem Krieg auf einer nagelneuen Yacht daherkommt, ist ein Exot. Ein bunter Hund mit Geld. Dabei will Nolte alles, nur nicht auffallen. Die Besatzer, die Briten, sind skeptisch. Kein Deutscher darf unkontrolliert das Land verlassen. Jeder könnte ein wichtiger Zeuge von Kriegsverbrechen sein, ein Schmuggler, einer von Hitlers Schergen. Aber Ado Nolte hat noch ein Problem. Er kann auf der Elbe segeln – aber er war noch nie auf hoher See. Navigation, Wetterkunde, Segeln im Sturm, von all dem hat er keinen blassen Schimmer. Zudem kontrollieren Patrouillenboote der Alliierten die Seegebiete vor der Elbe- und Wesermündung. In der Nordsee und in der Biskaya treiben Seeminen.


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mare No. 70

No. 70Oktober / November 2008

Von Marc Bielefeld

Marc Bielefeld, 42, lebt als freier Autor in Hamburg und kreuzt, wann immer er Zeit hat, mit seinem über 50 Jahre alten Winga-Kreuzer „Atina“ in der dänischen Ostsee. Einmal unter Segeln den Atlantik zu überqueren ist auch sein großer Traum.

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Vita Marc Bielefeld, 42, lebt als freier Autor in Hamburg und kreuzt, wann immer er Zeit hat, mit seinem über 50 Jahre alten Winga-Kreuzer „Atina“ in der dänischen Ostsee. Einmal unter Segeln den Atlantik zu überqueren ist auch sein großer Traum.
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