Budenzauber

Auf dem „Feld der Wunder“, einem postsowjetischen Markt an einer Ausfallstraße von Odessa, steht der größte Markt Europas. Die Geschäftsräume sind ausrangierte Schiffscontainer, die Ware Markenartikel aus aller Welt – mit dem Anschein von mondänem Luxus

Und auf einmal konnte man alles kaufen! Lora, zart geschminkte Rentnerin mit rotgoldenem Haar, erinnert sich noch genau. Sie räumt die Suppenschalen weg und stellt einen geblümten Teller auf den Resopaltisch. Auf dem Teller liegt ein glupschäugiger Lachskopf. Wir sitzen in Loras Küche in Ovidiopol, am Schwarzen Meer. Hier saß Ovid in der Verbannung. Iss die Bäckchen, sagt sie, und greift hinter die Kiemen. Vor 1991 fuhr jeder, der konnte, nach Moskau, sagt sie, einmal im Jahr. Sie hat das auch gemacht, für die Kinder. Von Odessa 36 Stunden mit dem Schnellzug. Und dann brachte sie Butter mit, Schokolade, Wurst und Wäsche, ja deutsche Wäsche, die guten Unterhosen. Und auf einmal konnte man hier alles kaufen.

Mit der Perestroika wuchs in Odessa beim Busbahnhof ein kleiner, halb illegaler Flohmarkt. 1989 war er so groß, dass er vor die Stadt ausgelagert wurde, sieben Kilometer entfernt auf eine stillgelegte Deponie, die man schnell sauber asphaltierte. So ward Licht auf dem Müllhügel der postsowjetischen Zeit. Mit dem „Siebter-Kilometer-Markt“ begann die Erschaffung der kapitalistischen Welt.

Die ersten Verkaufsstände waren auf dem Boden ausgebreitete Zeitungen. Dann kamen Klapptische, hölzerne Stände, Zelte. Die Odessiten nannten das Areal nun auch „Feld der Wunder“. Und alle staunten.

1995 kam ein unbekannter Held der neuen Zeit auf eine Idee. Ihm waren die ausrangierten Schiffscontainer im Hafen von Odessa aufgefallen. Die standen herum und rosteten. Heute ist der Siebter-Kilometer Europas größter Freiluftmarkt, eine atemberaubende Containerstadt. Auf dem Gemeindeland von Ovidiopol laufen in vier schachbrettartig angelegten Arealen über rund 70 Hektar Straßen aus 16 000 ausrangierten Schiffscontainern. Sie stehen meist doppelstöckig übereinander: unten der Verkaufsraum, oben das Lager. Eine eiserne Sprossenleiter verbindet sie. Jeder Container hat eine Nummer. Und damit sich keiner verläuft, wurden die Container angestrichen. Die Farbe ist der Name. Rosa Straße, Graue Straße, Grüne Straße, Aprikosenfarbene Straße, Hellblaue Straße, Blaue Straße. In den bunten Würfeln des Siebter-Kilometer arbeiten 60 000 Menschen. Damit ist der Markt einer der größten Arbeitgeber der Region. An manchen Tagen kommen bis zu 250 000 Einzelkäufer und Zwischenhändler, der Tagesumsatz liegt im Schnitt bei 20 Millionen Dollar.

Hier wird aus Schiffscontainern der Luxus gelöscht. Billigprodukt ist ein hässliches Wort. Aber der Siebter-Kilometer ist schön. Schnell, hektisch, ein heißer Rausch, der verspricht, dass alles, alles zu haben ist. Endlich! Verkauft werden italienische, französische, deutsche Markenartikel aus China, Russland, der Türkei, der Ukraine. Zum Beispiel. Der gar nicht diskrete Charme der Kopie. Es ist eine ungeheure Energie, die selbstironisch noch die Kopie kopiert und die internationalen Produktlabel als bunte Muster auf Servietten druckt. In der Wirklichkeit der Schiffscontainer ist die Fälschung das Echte.

Wenn das moderne Odessa sich als ein schreiendes Konglomerat präsentiert aus Sowjetzeit, restaurierter Donaumonarchie und McDonald’s, dann ist der Siebter-Kilometer dagegen ästhetisch souverän. Es scheint, als habe er das „Form follows function“ des klassischen Designs geradezu spielend stilsicher befolgt: Hier gibt es nur, was nötig ist. Die Idee des Containermarkts hat sich mittlerweile bis in die Provinz ausgebreitet. Der SiebterKilometer aber gilt als Urform der neuen Warenmärkte der ehemaligen Sowjetunion. Vom Schwarzmeerstrand, wo der verbannte Dichter einst trist aufs Wasser sah, könnte er heute die Ausfallstraße Richtung Odessa nehmen. Und einkaufen gehen, seine Einkaufstaschen mit einem Fahrradgummi an seine Krawtschutschka festgeschnallt.

Unter dem ersten Präsidenten Leonid Krawtschuk erfand sich der frische Handel in der Ukraine 1991 ein neues Transportmittel. Was das Schiff auf dem Meer, ist die Krawtschutschka in der Containerstraße. Und wie Ozeandampfer und Einbäume auf je ihre Weise seetüchtig und steuerbar sind, so gibt es die Krawtschutschka für die vorsichtig ihre Füße setzende Pensionärin, die mit einem der pendelnden Kleinbusse aus Odessa kommt, für die sportliche Zwischenhändlerin, die mit einem Überlandbus aus Kiew oder Dnjepropetrowsk anreist, wie für den angeheuerten Träger mit tätowiertem Oberkörper, der – seine Zeit ist sein Geld – rennend Container be- und entlädt. Im Prinzip ist die Krawtschutschka eine Art Sackkarre, nach Bedarf aus Leichtmetall oder Eisen, die Räder aus dünnem Plastik von einem alten Kinderwagen oder aus dickem Gummi.


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mare No. 75

No. 75August / September 2009

Von Angelika Overath und Kirill Golovtchenko

Angelika Overath, Jahrgang 1957, lebt als Autorin in Sent, Graubünden. Zuletzt erschien ihr Roman Flughafenfische (Luchterhand). Aus Odessa brachte sie ihrer Tochter goldene Prada-High-Heels mit. Dass es eine Kopie war, irritierte die Beschenkte nicht: „Wundervoll, eine originale Fälschung.“

Kirill Golowtschenko, geboren 1974, Fotograf in Mainz und Odessa, kennt den Markt in- und auswendig. Früher hat er dort selbst hergestellte Gürtel verkauft, die er mit dem Aufdruck „Made in Spain“ versah. „Es war eine wilde Zeit“, sagt er heute.

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Vita Angelika Overath, Jahrgang 1957, lebt als Autorin in Sent, Graubünden. Zuletzt erschien ihr Roman Flughafenfische (Luchterhand). Aus Odessa brachte sie ihrer Tochter goldene Prada-High-Heels mit. Dass es eine Kopie war, irritierte die Beschenkte nicht: „Wundervoll, eine originale Fälschung.“

Kirill Golowtschenko, geboren 1974, Fotograf in Mainz und Odessa, kennt den Markt in- und auswendig. Früher hat er dort selbst hergestellte Gürtel verkauft, die er mit dem Aufdruck „Made in Spain“ versah. „Es war eine wilde Zeit“, sagt er heute.
Person Von Angelika Overath und Kirill Golovtchenko
Vita Angelika Overath, Jahrgang 1957, lebt als Autorin in Sent, Graubünden. Zuletzt erschien ihr Roman Flughafenfische (Luchterhand). Aus Odessa brachte sie ihrer Tochter goldene Prada-High-Heels mit. Dass es eine Kopie war, irritierte die Beschenkte nicht: „Wundervoll, eine originale Fälschung.“

Kirill Golowtschenko, geboren 1974, Fotograf in Mainz und Odessa, kennt den Markt in- und auswendig. Früher hat er dort selbst hergestellte Gürtel verkauft, die er mit dem Aufdruck „Made in Spain“ versah. „Es war eine wilde Zeit“, sagt er heute.
Person Von Angelika Overath und Kirill Golovtchenko