Blutige Geschäfte

Milliardengewinne, eine ruinierte Umwelt, eine Spirale der Gewalt, Mord. Was das Öl im Delta des Nigers anrichtet

Wenn ich manchmal über alles nachdenke, dann denke ich an Landkarten. In unserer Welt der Zahlen und Fakten spielt diese Geschichte eines Mannes und seines Volkes, die für die Erhaltung ihres Landes, ihrer Kultur kämpfen. Sie kämpfen gegen ein brutales Militärregime und die Interessen eines internationalen Ölkonzerns. Man könnte es poetisch betrachten und einen Begriff verwenden, der einmal in einer englischen Zeitung zu lesen war: Dann wären die Geschehnisse eine „Fabel“ des 20. Jahrhunderts. Doch wenn ich an meinen Vater denke und an die Kämpfe, die das Volk der Ogoni für die Gerechtigkeit gefochten hat, dann sehe ich eine Landkarte vor mir. Sie zeigt die Umrisse eines kranken menschlichen Herzens.

Der Niger ist der längste Fluss in Westafrika; er entspringt am Fuß der Tingi-Berge, an der Grenze zwischen Guinea und Sierra Leone. An der Mündung des Nigers entfaltet sich sein Flussdelta, das größte in Afrika; es misst 240 Kilometer von Norden nach Süden und breitet sich auf einer Fläche von 320 Quadratkilometern entlang der nigerianischen Küste aus. Hier findet man dichten Regenwald, Mangrovenwälder und Sumpfgebiete, die labyrinthartig von gezeitenabhängigen Kanälen durchzogen sind. Die Region ist reich an Rohstoffen; sie liefert Holz, Kohle, Palmfett, Erdgas und Rohöl, und sie ist zudem eine der am dichtesten besiedelten Landschaften der Welt. Das Delta des Nigers ist gleichsam Herz und Lunge Nigerias. Genau hier, in der nordöstlichsten Ecke eines sanft abfallenden Überschwemmungsgebiets, wird meine Geschichte enden.

Doch gibt es mehr als einen Anfang. Er hängt von der Perspektive des Betrachters ab und davon, welcher Art von Geschichtsschreibung man anhängt. Einer unserer Schöpfungsmythen sagt, dass die Ogoni seit Anbeginn der Zeit auf diesem Schwemmland leben. Alle Stämme des Deltas können auf eine lange Geschichte und eine reiche kulturelle Vergangenheit zurückblicken. Doch dieser Schatz ist in Vergessenheit geraten. Er wurde geleugnet oder von jenen europäischen Berichten überlagert, in denen behauptet wird, Nigeria sei erst im 15. Jahrhundert von deutschen Forschern „entdeckt“ worden.

Die wahre Geschichtsschreibung lässt uns wissen, dass jene Völker, die am 4200 Kilometer langen Ufer des Nigers leben, ihren Strom bei verschiedenen Namen nennen. Man erfährt, wie sein Name von einem Begriff der Tuareg abgeleitet wurde. Sie sprachen vom gher n gherem, was so viel bedeutet wie „Fluss der Flüsse“. Und was so gar nichts zu tun hat mit der lateinischen oder portugiesischen Wortwurzel für „schwarz“, die üblicherweise für die etymologische Ableitung des Namens herhalten muss. Doch genau diese europäische Sicht der Dinge hat sich durchgesetzt.

Nigeria ist nach dem Fluss benannt, der das Land teilt und ernährt. Erdöl hat man 1956 in förderungswürdigen Mengen im Delta entdeckt, zwei Jahre später auch in Ogoni. Seither wurden rund 900 Millionen Barrel aus meinem Land gepumpt. Leitungswasser ist in Ogoni immer noch eine Seltenheit, Strom fließt spärlich und sporadisch, die Schulen und das Gesundheitswesen funktionieren auf niedrigstem Niveau. All dies ist ein dürftiger Ertrag für eine Region, in der ausländische Konzerne bis zu 28000 Barrel Erdöl täglich gefördert haben. Doch sieht Ogoni mit seinen Lehmhütten, mit seinen staubigen, unbefestigten Straßen überhaupt nicht aus wie eine Region, die Rohstoffe im Wert von rund 30 Milliarden US-Dollar an die Regierung des Landes und an die Erdölindustrie geliefert hat.

Handelte es sich nur um unsere wirtschaftliche Marginalisierung, dann wären die Ogoni eines von vielen Völkern, denen auf der ganzen Welt Gleiches widerfährt. Nimmt man die beispiellose Ausbeutung unserer natürlichen Ressourcen hinzu, dann erkennt man in unserem Unglück die Fratze des Kapitalismus.

„In 35 Jahren rücksichtsloser Ölförderung durch die internationalen Erdölkonzerne wurde das Habitat der Ogoni zerstört“, hat mein Vater einst geschrieben. „Vier Gasfackeln, die rund um die Uhr brennen, und dies 35 Jahre lang, in nächster Nähe zu menschlichen Behausungen; mehr als 100 Ölquellen; zwei Öl- und eine petrochemische Raffinerie; ein Chemiewerk für Dünger; überirdisch verlegte Pipelines, die die Landschaft im Zickzackmuster zersägen – all dies hat Menschen, Flora und Fauna den Tod gebracht.“

Bis mein Vater sich daranmachte, die ökologische Bilanz der Ölkonzerne im Nigerdelta mit ihrem Verhalten in der Ersten Welt zu vergleichen, lebte ich im Stand der Unschuld. Da ich im Delta aufgewachsen bin, haben sich mir die verheerenden Auswüchse der Erdölförderung wie ein Naturbildnis ins Bewusstsein eingegraben. Insbesondere erinnere ich mich an eine Gasfackel in Eleme vor Port Harcourt, der Hauptstadt der Region. Ganz in der Nähe befindet sich heute ein gigantisches Petrochemiewerk; deplatziert wie ein verlassenes Raumschiff steht es inmitten einer tropischen Gartenlandschaft.

Am Wochenende, wenn wir einen Ausflug machten, kündigte uns die Flamme wie ein Hinweisschild die Stadt Port Harcourt an. Erschöpft vom Besuch bei den Großeltern, schlief ich während der Rückfahrt in die Stadt so lange, bis mich das Brüllen der Gasfackel weckte. Noch heute lodert dieses Bild in meiner Erinnerung, und wenn ich die Augen schließe, kann ich beinahe spüren, wie die Flamme mein Gesicht wärmt. Wenn ich daran zurückdenke, wird mir klar, dass ich ihr Vorhandensein nie in Frage gestellt habe. Noch nicht einmal als junger Mann, der beträchtliche Zeit seines Lebens in Europa verbracht hatte und der hätte wissen müssen, dass solche Flammen normalerweise nicht in der Nähe menschlicher Siedlungen brennen.

Die nigerianischen Ölfelder bergen Gasvorräte von geschätzten 3,4 Billionen Kubikmetern, womit Nigeria unter den Gasproduzenten weltweit an zehnter Stelle rangiert. Allerdings verbrennen die Ölkonzerne 76 Prozent aller entweichenden Gase. 2002 rechnete unser Präsident Olusegun Obasanjo vor: „Die Menge des täglich verbrannten Gases entspricht 259000 Barrel Rohöl.“

Mein Vater hasste Verschwendung. Gleiches gilt für Ungerechtigkeit. Es war, als hätte er bereits gewusst, dass er eines Tages beiden Untugenden zum Opfer fallen würde. Er war lebenshungrig, aber er war ein genügsamer Mann. Seine Extravaganzen beschränkten sich auf Bücher und Reisen; ferner bestand er darauf, jedes seiner sieben Kinder auf eine Privatschule zu schicken. Ich vermute, sein Hang zum Kritisieren entsprang seinem Widerwillen gegen die Verschwendungssucht und den Größenwahn um ihn herum.

Am meisten schmerzten ihn die Umstände, unter denen Paläste und Wolkenkratzer aus dem Boden gestampft wurden. Diese Bauten waren für ihn ein Sinnbild jener Raffgier, die zu viele Menschen in Nigeria erfasst hatte. Immer wieder wies mein Vater darauf hin, dass diese Häuser gebaut werden konnten, weil man den Ogoni ihre Ressourcen gestohlen hatte. Er schrieb, Ogoni hätte „so reich wie ein kleiner Golfstaat“ sein sollen.

Wenn mein Vater versuchte, die Vertreter der Ölindustrie in seine Sicht der Dinge einzuweihen, vergaß er nie, sein liebstes Paradox anzuführen: Nigeria wurde nach einer Handelsfirma benannt, der Niger Trading Company. Mein Vater war nämlich der Ansicht, dass sich trotz der Unabhängigkeit im Jahr 1960 nichts verändert hatte. Immer noch befand sich der Staat in den Händen der Ölkonzerne, die wie eh und je enorme Profitspannen erwirtschafteten und ihre gesamten Erträge zurück nach Europa und Nordamerika pumpten.

Der Export von Rohöl macht 90 Prozent des nigerianischen Außenhandelseinkommens aus. Durch das Öl verdienen die hiesigen Machthaber jährlich rund 14 Milliarden US-Dollar. Diese ungeheuren Einkünfte haben die öffentliche Moral korrumpiert, demokratische Bestrebungen wurden unterbunden. Wegen des Öls hat das Militär die Macht ergriffen, angeblich aus Gründen der staatlichen Sicherheit. Machten sich die Generäle etwa Sorgen, weil das Land, das seit den sechziger Jahren erwiesenermaßen rund 400 Milliarden US-Dollar durch das Öl verdient hat, nun zu den ärmsten der Welt gehört? Das statistische Jahreseinkommen beläuft sich übrigens auf 250 US-Dollar je Einwohner.

Während die Nation – und besonders jene Landstriche mit Ölvorkommen – allmählich verarmte, haben sich die regierende Elite und die Ölfirmen am Erbe Nigerias bereichert. Es gibt Schätzungen, nach denen die Gelder nigerianischer Auslandskonten der Summe der Staatsverschuldung entsprechen. Und immer noch bezieht Shell, der größte Ölkonzern im Land, mit rund 14 Milliarden US-Dollar rund ein Viertel seiner weltweiten Einkünfte aus Nigerias Ölfeldern. Unzulängliche Vorschriften und eine Regierung, die diskret beiseite schaut, wenn Umweltbestimmungen unterlaufen werden, haben dazu geführt, dass Shell bei der Förderung zwei US-Dollar je Barrel einsparen kann.

1989 gründete mein Vater eine Protestbewegung und nannte sie Mosop – Movement for the Survival of the Ogoni People. Es sollte eine gewaltfreie Organisation sein, die sich auf die Menschen an der Basis stützte, eine Bewegung, die für das Überleben der Ogoni kämpfte. Mosop sollte unserem Volk die Augen für sein Schicksal öffnen. Es sollte in ihm die Bereitschaft zum Protest wecken gegen die menschenunwürdige Behandlung der Ogoni durch Shell und die nigerianische Regierung. Eine Gemeinschaft, die bis dahin als handzahm und faul galt, fand ihre gemeinsame Stimme. Ein randständiges Volk der Minderheiten, welches auch von anderen ethnischen Gruppierungen diskriminiert worden war, emanzipierte sich. In uns wuchs der Stolz auf unsere Kultur, unsere Geschichte und unsere Sprache.

Am 4. Januar 1993 trafen sich schätzungsweise 300000 von 500000 Ogoni zu einem friedlichen Protestmarsch der Mosop. Greenpeace-Aktivisten und Journalisten bestätigten den friedlichen Verlauf der Demonstration. Die Forderung der Ogoni: Shell solle sich aus der Region zurückziehen. Der Konzern möge noch seine Pachtschulden bezahlen und sich um die Entsorgung der Altlasten kümmern – und Schluss. Shell zog tatsächlich ab, allerdings mit der Begründung, Betriebsangehörige seien von gewalttätigen Demonstranten angegriffen worden. Die Gesellschaft rief die Militärregierung als Vermittlerin an.


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mare No. 55

No. 55April / Mai 2006

Von Ken Wiwa und Sophia Evans

Ken Wiwa, Jahrgang 1967, wurde von seinem Vater auf den Namen Kenule Bornale Tsaro-Wiwa getauft, „In schwierigen Zeiten bin ich der furchtlose erste Sohn von Wiwa“. Doch der junge Wiwa wollte nicht an der Seite seines Vaters kämpfen, sondern seinen eigenen Weg finden. Erst nach dem Justizmord an dem Regimekritiker kehrte Wiwa nach Nigeria zurück. 2001 erschien seine Vater-Sohn-Geschichte Im Schatten des Märtyrers (Claassen). Anlässlich der mare-Reportage reiste er kürzlich erneut ins Delta.

Für die englische Fotografin Sophia Evans, sie arbeitet für die Londoner Agentur nb pictures, war die Reise ein Schock. „Die Ölförderung hat die Region verwüstet. Land, Flüsse, Bäche sind vergiftet, die Luft ist verpestet von den Emissionen der Gasfackeln – Methan, Kohlenmonoxid, Kohlendioxid und Ruß. Die Flammen brennen in umittelbarer Nachbarschaft der Siedlungen, 24 Stunden am Tag, und das seit 35 Jahren.“

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Vita Ken Wiwa, Jahrgang 1967, wurde von seinem Vater auf den Namen Kenule Bornale Tsaro-Wiwa getauft, „In schwierigen Zeiten bin ich der furchtlose erste Sohn von Wiwa“. Doch der junge Wiwa wollte nicht an der Seite seines Vaters kämpfen, sondern seinen eigenen Weg finden. Erst nach dem Justizmord an dem Regimekritiker kehrte Wiwa nach Nigeria zurück. 2001 erschien seine Vater-Sohn-Geschichte Im Schatten des Märtyrers (Claassen). Anlässlich der mare-Reportage reiste er kürzlich erneut ins Delta.

Für die englische Fotografin Sophia Evans, sie arbeitet für die Londoner Agentur nb pictures, war die Reise ein Schock. „Die Ölförderung hat die Region verwüstet. Land, Flüsse, Bäche sind vergiftet, die Luft ist verpestet von den Emissionen der Gasfackeln – Methan, Kohlenmonoxid, Kohlendioxid und Ruß. Die Flammen brennen in umittelbarer Nachbarschaft der Siedlungen, 24 Stunden am Tag, und das seit 35 Jahren.“
Person Von Ken Wiwa und Sophia Evans
Vita Ken Wiwa, Jahrgang 1967, wurde von seinem Vater auf den Namen Kenule Bornale Tsaro-Wiwa getauft, „In schwierigen Zeiten bin ich der furchtlose erste Sohn von Wiwa“. Doch der junge Wiwa wollte nicht an der Seite seines Vaters kämpfen, sondern seinen eigenen Weg finden. Erst nach dem Justizmord an dem Regimekritiker kehrte Wiwa nach Nigeria zurück. 2001 erschien seine Vater-Sohn-Geschichte Im Schatten des Märtyrers (Claassen). Anlässlich der mare-Reportage reiste er kürzlich erneut ins Delta.

Für die englische Fotografin Sophia Evans, sie arbeitet für die Londoner Agentur nb pictures, war die Reise ein Schock. „Die Ölförderung hat die Region verwüstet. Land, Flüsse, Bäche sind vergiftet, die Luft ist verpestet von den Emissionen der Gasfackeln – Methan, Kohlenmonoxid, Kohlendioxid und Ruß. Die Flammen brennen in umittelbarer Nachbarschaft der Siedlungen, 24 Stunden am Tag, und das seit 35 Jahren.“
Person Von Ken Wiwa und Sophia Evans