Blau und gelb

Die meiste Zeit seiner Geschichte hat China sich nach innen gewendet. Ein inländisches „gelbes“ Reich voller Argwohn gegenüber seiner Küste, von der aus man auf ein Meer der Gefahren sah. Heute verschieben sich die Zentren des Reiches an seine Ufer.

Um fortzukommen von den rauchenden Trümmern einer Liebesgeschichte, die mich ein Jahr lang beschäftigt hatte, suchte ich mir den entlegensten Ort aus, den ich mir denken konnte: Karakorum. Mehrere Tages- reisen, mit Fähre, Bahn und Bussen, liegen zwischen der kleinen südchinesischen Insel, auf der ich wohne, und der Stadt in der mongolischen Steppe. Dort quartierte ich mich im Hotel „Muchlai“ ein, einem minzgrün gestrichenen Schuhkarton, dessen desolater sowjetischer Charme mich sofort anzog. Außer mir war nur eine Schar japanischer Ornithologen zugegen und natürlich das Personal, das jeden Abend den Wodka trank, der für die Gäste bestimmt war.

Karakorum war einmal die Hauptstadt des mongolischen Imperiums. Heute ist es ein Dorf, das das breite Tal des Orchon, in dem es liegt, bei Weitem nicht ausfüllt. Die Gegend wirkt wie eine bewegungslose Meerlandschaft. Auf den grünen Wellen grasen Pferde, manchmal direkt unter den Fenstern des Hotels. Von Karakorum aus plante man vor knapp 800 Jahren einen Feldzug zur Eroberung ganz Chinas. Dem setzten die Mongolen der Song-Dynastie ein Ende. Die Flucht des chinesischen Kaisers vor den Reitern aus dem Norden endete 1279 auf einer obskuren Insel am äußersten Südrand Chinas. Dort stürzte Kaiser Bing sich von einer Klippe ins Meer. Die obskure Insel gehört heute zu Hongkong. Ich wohne auf der Nachbarinsel.

Gleich hinter dem Hotel, ein paar Schritte vor meinem Fenster, standen Überseecontainer aus Hamburg aufgestapelt. Mitten in der Steppe, 2000 Kilometer entfernt von der nächsten Küste. Vermutlich waren die Container im chinesischen Dalian von Bord gegangen, das früher auch unter dem Namen Port Arthur bekannt war. Die Strecke von Dalian nach Karakorum führt durch die Innere, also die chinesische Mongolei. Sie verläuft durch einen Ort mit dem auch für chinesische Ohren exotischen Namen Xinba’erhuyouqi. Zu Deutsch: das rechte Banner des Xinba’er-Clans. Mit „rechts“ ist Westen gemeint – chinesische Karten waren früher nach Süden orientiert. Der Ort liegt an der Grenze zwischen der Inneren und der sogenannten Äußeren Mongolei, „außen“ aus der Perspektive Chinas. Das vollkommen desolate Städtchen ist nicht weit entfernt vom Dalaisee. Dalai bedeutet Ozean. Der See ist sehr groß.

 

 

In Europa denkt man sich China meist als einen Teil des Fernen Ostens. Das stimmt zwar, aber außerdem gehört China auch zu Zentralasien. Für Jahrhunderte gehörten Teile des Landes zu Reichen aus der Steppenzone; einmal war sogar ganz China dem mongolischen Imperium einverleibt. Zu anderen Zeiten war es umgekehrt und China beherrschte die Mongolei und andere Teile Innerasiens. Diese lange, enge Verbindung hat einen starken Einfluss auf China ausgeübt. Auf das Essen, die Sprache, allerlei Sitten, auf die Religion – der Buddhismus kam aus Zentralasien nach China – und auch auf das Verhältnis der Chinesen zum Meer. Sie haben darum eine ziemlich distanzierte Haltung zu ihrer Küste. ➣

Das ist jedenfalls ein Strang in den Traditionen, die mit der Rolle des Meeres im Selbstbild der Chinesen zu tun haben. Aber China ist bekanntlich ein großes, altes und kompliziertes Land, in dem nichts eindeutig ist.

Einer der mächtigsten Götter im Pantheon der chinesischen Volksreligionen ist Tian Hou, die Göttin des Meeres. Auch haben chinesische Händler im Lauf der Jahrhunderte ihren Aktionsradius über ganz Südostasien ausgedehnt, per Schiff, versteht sich. Es ist charakteristisch für das gespaltene Verhältnis zum Meer, dass sie dies viele Generationen lang gegen das ausdrückliche Verbot ihrer Regierung taten. Die wollte den Kontakt mit dem Ausland möglichst unterbinden. In der Ming-Dynastie setzte die Regierung an zu einer großen Expansion und schickte Schiffe bis in den Persischen Golf und nach Ostafrika, nur um das Flottenprogramm bald wieder einzustampfen. Später, im späten 19. Jahrhundert, schauten viele Chinesen mit Grausen aufs Meer, von dem die „yang guizi“ kamen, die „Ozeandämonen“, also die Engländer. Im 20. Jahrhundert dagegen richteten sich die Hoffnungen der Intellektuellen auf ein „blaues“, nämlich ein maritimes China, das mit dem autoritären Stil der alten, inländischen Reiche Schluss machen sollte. Auf dem Höhepunkt der Mao-Herrschaft wiederum war China so mit sich selbst beschäftigt, dass die Küste eine Grenze war, die man schlechterdings nicht überschreiten konnte. Heute zieht es Aberdutzende Millionen Wanderarbeiter an die Küste, wo harte Arbeit und Ausbeutung auf sie warten, aber auch Chancen auf Selbstbestimmung und ein Quantum Freiheit.

In einem Wort: China hat ein zwiespältiges Verhältnis zum Meer, nahezu bipolar. Einerseits besitzt das Land eine rund 18 000 Kilometer lange Küste. Aber es besitzt auch eine Landfläche von über neun Millionen Quadratkilometern. Damit ist China mehr als doppelt so groß wie die Europäische Union, deren Küstenlinie sich über etwa 66 000 Kilometer erstreckt. Das allein legt nahe, dass China weniger maritim gestimmt ist als Europa und seine überseeischen Ableger. Darum ist es vielleicht nur natürlich, dass die Chinesen in vieler Hinsicht mit der Küste fremdeln.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 92. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 92

No. 92Juni / Juli 2012

Von Justus Krüger und Zhang Xiao

Justus Krüger, Jahrgang 1974, lebt seit 2005 als freier Korrespondent in China. Zum ersten Mal ins Reich der Mitte kam er aber schon 1998, als Student der Sinologie. Seither unternahm er etliche ausgedehnte Reisen im Land.

Zhang Xiao, geboren 1981, fotografierte für die Chongqing Morning Post, ehe er 2009 sein inzwischen mit internationalen Preisen ausgezeichnetes Langzeitprojekt über Chinas Küste begann. Heute lebt er in Chengdu.

Mehr Informationen
Vita Justus Krüger, Jahrgang 1974, lebt seit 2005 als freier Korrespondent in China. Zum ersten Mal ins Reich der Mitte kam er aber schon 1998, als Student der Sinologie. Seither unternahm er etliche ausgedehnte Reisen im Land.

Zhang Xiao, geboren 1981, fotografierte für die Chongqing Morning Post, ehe er 2009 sein inzwischen mit internationalen Preisen ausgezeichnetes Langzeitprojekt über Chinas Küste begann. Heute lebt er in Chengdu.
Person Von Justus Krüger und Zhang Xiao
Vita Justus Krüger, Jahrgang 1974, lebt seit 2005 als freier Korrespondent in China. Zum ersten Mal ins Reich der Mitte kam er aber schon 1998, als Student der Sinologie. Seither unternahm er etliche ausgedehnte Reisen im Land.

Zhang Xiao, geboren 1981, fotografierte für die Chongqing Morning Post, ehe er 2009 sein inzwischen mit internationalen Preisen ausgezeichnetes Langzeitprojekt über Chinas Küste begann. Heute lebt er in Chengdu.
Person Von Justus Krüger und Zhang Xiao