Auf der Suche nach dem Licht des Meeres

Zwei Reisen ans Meer schenken Vincent van Gogh wichtige Impulse. 1882 malt er an der Nordsee, 1889 am Mittelmeer

Eigentlich hatte er schon früher fahren wollen, hinunter ans Meer, das ihn so magisch anzog, seit er in der Provence angekommen war. Aber dann reichte das Geld nicht mehr – wieder einmal. Das „gelbe Haus“, das er an der Place Lamartine im Bahnhofsviertel von Arles gemietet hatte, brauchte einen neuen Anstrich; die Handwerker verlangten ihr Geld. Und neue Leinwände und Tubenfarben benötigte der Maler auch. Den Plan, sofort ans Mittelmeer zu fahren, musste Vincent van Gogh also erst einmal verschieben. „Morgen früh zu guter Stunde reise ich nach Saintes-Maries, am Rand des Mittelmeers“, hatte der 35-Jährige Ende Mai des Jahres 1888 seinem Bruder Theo in Paris geschrieben. „Ich werde dort bis Samstagabend bleiben. Ich nehme zwei Leinwände mit, aber ich fürchte, dass es zu viel Wind geben könnte, um zu malen. Ich nehme alles mit, was besonders zum Zeichnen nötig ist. Es ist nötig, dass ich viel zeichne.“

Wenige Tage später folgte die Absage. „Ich bin nicht nach Saintes-Maries gereist“, teilt van Gogh seinem Bruder spürbar geknickt mit, „sie sind fertig mit dem Streichen des Hauses, und ich musste dafür bezahlen. Außerdem musste ich einen ziemlichen Vorrat an Leinwänden kaufen. Deshalb bleibt mir von 50 Francs nur noch ein Louisdor übrig, und es ist erst Dienstagmorgen, deshalb war es kaum möglich zu reisen, ich fürchte, nächste Woche wird es genau so schlecht sein.“ Theo hatte, wie so oft, Erbarmen, sandte 100 Francs, und endlich konnte sein Bruder das ersehnte Ticket für die Morgenkutsche kaufen.

Das Licht Japans hoffte van Gogh in Südfrankreich zu finden. Ein „Atelier des Midi“ wollte er gründen, in dem auch befreundete Maler wie Paul Gauguin und Émile Bernard mitarbeiten sollten. Tatsächlich ist Bernard nie gekommen, und Gauguin verließ ihn nach wenigen Wochen in heftigem Streit und kehrte niemals zurück. Die nur knapp eine Woche währende Reise ans Mittelmeer aber, die schließlich doch noch stattfinden konnte, erfüllte van Goghs Erwartungen über die Maße: In jenen sechs Tagen wurde ihm bewusst, dass er acht Jahre zuvor richtig entschieden hatte, sein Brot als Künstler zu verdienen. Schon zum zweiten Mal hatte ihm eine Fahrt zum Meer geholfen, sich seiner Berufung klar zu werden.

Als er nach Frankreich kam, war van Gogh bereits als Lehrer, als Buchhändler und als Prediger gescheitert. 1880 beschloss er daraufhin, dem Rat seines Bruders zu folgen und Maler zu werden. Nach sechs Jahren der Selbstschulung in Hollands Provinz Drenthe war er schließlich zu Theo nach Paris gezogen und hatte dort durch die Impressionisten die hellen Farben kennen und schätzen gelernt. Er beherrschte inzwischen sein Handwerk und konnte damit beginnen, seinen Beruf frei zu gestalten. Die französische Metropole, die er mittlerweile als laut und hektisch empfand, brauchte er dafür nicht mehr. Van Gogh suchte nach Ruhe und nach Gemeinschaft, nicht nach Wettbewerb und Konkurrenz.

Einige der Impressionisten, die er in Paris kennen gelernt und mit denen er zusammengearbeitet hatte, zogen sich an den Atlantik zurück. Gauguin malte in Pont-Aven, Monet und Dufy in Étretat und Le Havre, in Deauville und Sainte-Adresse. Van Gogh dagegen fuhr im Frühjahr 1888 in den Süden, weil er die Sonne suchte. „Ich wollte ein anderes Licht sehen“, wird er sich später erinnern. „Ich dachte, wenn man die Natur unter einem helleren Himmel betrachtete, so bekäme man eine bessere Vorstellung von der Art, wie die Japaner empfinden und zeichnen. Schließlich wollte ich diese stärkere Sonne sehen, weil man fühlt, wenn man sie nicht kennt, kann man die Bilder von Delacroix vom technischen Standpunkt aus nicht verstehen, und weil man fühlt, dass im Norden die Farben des Prismas im Nebel verschleiert sind.“ Das Meer suchte er auch.

Als van Gogh am 20. Februar 1888 nach rund 15 Stunden Zugfahrt in Arles eintrifft, liegt allerdings Schnee, mindestens 60 Zentimeter, und immer noch fällt neuer. Trotzdem spürt er, dass er am richtigen Ort ist. „Die Landschaften im Schnee mit den weißen Berggipfeln gegen einen Himmel, ebenso leuchtend wie der Schnee – das war wie die Winterlandschaften der Japaner.“ Er mietet zunächst ein Zimmer, später dann eine Hälfte des „gelben Hauses“ zwischen Bahnhof und Rhône. Die Zeit, die van Gogh in Arles verbringen wird, zählt zur produktivsten seines Lebens. In den 15 Monaten zwischen Februar 1888 und Mai 1889 entstehen neben unzähligen Zeichnungen rund 200 Gemälde. Unmittelbar nach seiner Ankunft fasst van Gogh den Plan, endlich auch ans Mittelmeer zu fahren. Ursprünglich denkt er an Marseille oder Martigues; bald aber steht fest, dass der kleine Wallfahrtsort Les Saintes-Marie de la Mer das Ziel sein soll.

Viereinhalb Stunden dauerte die Fahrt mit der Kutsche von Arles in das kleine Fischerdorf – 50 Kilometer quer durch die Camargue, entlang dem Etang des Vaccarès mit seinen Flamingos, vorbei an den weißen Pferden und den schwarzen Stieren, die zu sehen heute noch Tausende Touristen jedes Jahr die Sonne und die Mücken ertragen. Als van Gogh an einem Mittag Ende Mai in dem Dorf ankommt, in dem kurz zuvor die traditionelle Zigeunerwallfahrt zu Ehren der beiden Heiligen Maria Jakobäa und Maria Salome und ihrer schwarzen Dienerin Sara stattgefunden hatte, eilt er sofort ans Wasser – und ist begeistert. „Das Mittelländische Meer“, schreibt er enthusiastisch seinem Bruder, „hat eine Farbe wie die Makrelen, also wechselnd, man weiß nicht recht, ist es grün oder violett, man weiß nicht recht, ist es blau, denn eine Sekunde später schimmert es rosa oder grau.“


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mare No. 52

No. 52Oktober / November 2005

Von Stefan Koldehoff

Der Kunsthistoriker Stefan Koldehoff, Jahrgang 1967, war stellvertretender Chefredakteur des Magazins Art in Hamburg. Heute arbeitet er als Kulturredakteur beim Deutschlandfunk in Köln. Sein Buch Van Gogh. Mythos und Wirklichkeit erschien 2003 bei DuMont.

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Vita Der Kunsthistoriker Stefan Koldehoff, Jahrgang 1967, war stellvertretender Chefredakteur des Magazins Art in Hamburg. Heute arbeitet er als Kulturredakteur beim Deutschlandfunk in Köln. Sein Buch Van Gogh. Mythos und Wirklichkeit erschien 2003 bei DuMont.
Person Von Stefan Koldehoff
Vita Der Kunsthistoriker Stefan Koldehoff, Jahrgang 1967, war stellvertretender Chefredakteur des Magazins Art in Hamburg. Heute arbeitet er als Kulturredakteur beim Deutschlandfunk in Köln. Sein Buch Van Gogh. Mythos und Wirklichkeit erschien 2003 bei DuMont.
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