Auf den Zahn gefühlt

An Paul Gauguins Haus auf der Südseeinsel Hiva Oa wurden Zähne gefunden. Gehörten sie dem Maler? Und was sagen sie uns?

Die Luft ist schwül wie ein warmer Waschlappen. Eine Frau mit lockig-blondem Pagenschnitt steht versonnen an einem Grab. Ketten aus Muscheln und bunten Samenkörnern schmücken es. Sie legt still einen ovalen Kiesel auf den Stein, Paul Gauguins Ruhestätte. Dann geht ihre Hand wieder in ihre Jackentasche. „Mein Herz hat bis zum Hals geklopft. Einerseits fühlte ich einen unglaublichen Schatz in meiner Tasche. Andererseits war es vielleicht auch gar keiner. Vielleicht gehörten die Zähne ja nur irgendeinem Inselbewohner“, beschreibt Caroline Boyle-Turner ihre gemischten Gefühle, als sie vor ein paar Jahren an Gauguins Grab stand. Die ameri­kanische Kunsthistorikerin hat sich auf Gauguin und seinen Lebenswandel auf den bergigen Tropeninseln spezialisiert und ein Buch darüber geschrieben – „Paul Gauguin & the Marquesas. Paradise Found?“.

Ein Schneidezahn und drei Backenzähne steckten in Boyle-Turners Tasche, allesamt von Karies zerfressen. Die Amerikanerin hatte sie vorsichtig in eine Schachtel gebettet und nahe am Körper verstaut – aus Angst, sie könnten auf dem langen Weg von der Marquesasinsel Hiva Oa nach Frankreich, wo Boyle-Turner lebt, verloren gehen.

Die Zähne stammten aus dem Müll und der wiederum aus einem verschütteten Brunnen – einem 3,5 Meter tiefen Loch, das einheimische Forscher von Atuona um die Jahrtausendwende wieder freigelegt hatten. Ein früherer Besitzer des Grundstücks ist weltberühmt: Paul Gauguin. Nach seinem Tod hatte man diverse Hinterlassenschaften des verstorbenen Malers, die man für Abfall hielt, in den Brunnen geworfen und Erde darüber geschaufelt. Waren die Zähne womöglich vom Künstler selbst? 

Zwei Männer hatten Boyle-Turner den Fund anvertraut, Guy Rauzy und Étienne Tehaamoana, beide Bürgermeister von Atuona. Atuona liegt auf Hiva Oa, einer Insel mit 2200 Einwohnern in den Weiten des Pazifischen Ozeans. Zwei Dutzend Mal bereits hatte Caroline Boyle-Turner die Gelegenheit, Gauguins letzte Ruhestätte aufzusuchen – als Lektorin auf Kreuzfahrtschiffen wie der MS „Aranui 5“, die ab Papeete durch die Marquesas schippert. Die Inselgruppe ist Teil von Französisch-Polynesien, 1500 Kilometer von der Hauptstadt auf Tahiti entfernt. 

Doch für manche Weltenbummler und Aussteiger besaß Hiva Oa gerade des­wegen magische Anziehungskraft. Für Paul Gauguin war die Insel Ziel seiner Flucht vor der Zivilisation. In Atuona hatte der Maler, Bildhauer und Schriftsteller die letzten 20 Monate seines schaffensrei­chen und turbulenten Lebens verbracht. Am 8. Mai 1903 gestorben, ruht er seither auf dem Friedhof des Dorfs unter einem Frangipanibaum, ein Symbol der Unsterblichkeit. Ob die Ursache für den Tod des schwer kranken Manns Herz­infarkt, Selbstmord oder Syphilis war, konnte nie wirklich geklärt werden.

Paul Gauguin, Sohn einer französisch-peruanischen Mutter, war ein Getriebener, ein Freigeist, dem das künstlerische und gesellschaftliche Leben im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu eng wurde, obendrein für ihn unbezahlbar. Immer knapp bei Kasse, ließ er seine Frau Mette und fünf Kinder zurück, mit der Absicht, im Ausland einen Weg zu finden, um die Familie zu unterstützen. Inspira­tion für den Trip nach Tahiti fand er 1889 auf der Weltausstellung in Paris. Polynesiens Sammlung von Tikis, Tattoomotiven, fein geschnitzten Holzschalen und nicht zuletzt Fotos halb nackter Schönheiten verführten ihn in seiner Sehnsucht nach mythisch-primitiver Idylle. 

Im Jahr 1891 erreichte er Papeete und war enttäuscht, weshalb er schließlich auf die Marquesas zog, wo er sich das ursprünglichere Südseeleben erhoffte. Denn die gewünschte Idylle gab es auf Tahiti nicht mehr. Die Insulaner wurden von Frankreich kolonisiert, von katholischen Priestern und englischen Pastoren missioniert und viele Tahitianer mit europäischen Krankheiten infiziert, unter anderem Syphilis. Ein Umstand, der manche Historiker vermuten ließ, dass Gauguin sich deswegen jungfräulichen Polynesierinnen zuwandte, wohl um von Syphilis verschont zu bleiben. Andere Historiker wiederum bezeichnen ihn als „eingefleischten Sexisten“, der die fatale Geschlechtskrankheit bereits in sich getragen und fahrlässig junge Frauen damit angesteckt habe. Caroline Boyle-Turner hatte mit den Zähnen nun etwas in der Hand, das nach mehr als 100 Jahren möglichweise den Beweis liefern konnte, ob Gauguin wirklich an Syphilis erkrankt war oder nicht. 

Die Zähne waren in einer Flasche versteckt, die man am Boden des Brunnens fand. Auch Farbpigmente, Scherben von Flaschen, zu Lebzeiten Gauguins mit Bier oder Wein, Rum oder Absinth gefüllt, kamen ans Tageslicht. Dazu vier zerbrochene Parfumphiolen, andere Gefäße für homöopathische Tinkturen sowie eine Spritze nebst zwei Morphiumampullen. Bis auf die vier Zähne sind die Fundstücke im Musée Paul Gauguin in Atuona ausgestellt. Das Museum ist die originalgetreue Kopie der Bambushütte des Künstlers. 

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mare No. 155

mare No. 155Dezember 2022 / Januar 2023

Von Kiki Baron

Kiki Baron, Jahrgang 1954, lebt als freie Autorin in Hamburg. Als Kapitänstochter wurde ihr das Reisen und das Interesse am Meer in die Wiege gelegt. Auf ­einer Kreuzfahrt durch die Marquesas besuchte sie mit Caroline Boyle-Turner die nachgebaute Hütte von Gauguin sowie sein Grab in Atuona.

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Vita Kiki Baron, Jahrgang 1954, lebt als freie Autorin in Hamburg. Als Kapitänstochter wurde ihr das Reisen und das Interesse am Meer in die Wiege gelegt. Auf ­einer Kreuzfahrt durch die Marquesas besuchte sie mit Caroline Boyle-Turner die nachgebaute Hütte von Gauguin sowie sein Grab in Atuona.
Person Von Kiki Baron
Vita Kiki Baron, Jahrgang 1954, lebt als freie Autorin in Hamburg. Als Kapitänstochter wurde ihr das Reisen und das Interesse am Meer in die Wiege gelegt. Auf ­einer Kreuzfahrt durch die Marquesas besuchte sie mit Caroline Boyle-Turner die nachgebaute Hütte von Gauguin sowie sein Grab in Atuona.
Person Von Kiki Baron