Angst, Verführung, Melodram

Anmerkungen zum Hai als Antiheld

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Ich muss so etwa dreizehn Jahre alt gewesen sein, als ich mit meinen Eltern zum ersten Mal in den Ferien ans italienische Meer kam. Es war schön, jedenfalls so weit man es hinter der endlosen Luftmatratzen-Armada vermuten konnte. Eines Tages gab es eine furchtbare Aufregung. Jemand, so hieß es, habe einen Hai gesehen. Die Luftmatratzen verschwanden, Polizisten und Reporter liefen umher, Küstenwache, ein paar mutige Fischer und Sportboote fuhren aus. Tod und Teufel, was hätte ich dafür gegeben, mit ihnen zu fahren! Wenn ich einen lebendigen Hai im italienischen Meer gesehen hätte, wäre ich der Unterstufenheld des Max-von-Laue-Gymnasiums geworden. Aber meine Eltern packten das Neckermann-Zelt ein, und wir verließen die Küste. Es war, als flüchteten sie weniger vor einer realen Bedrohung als vor einer schrecklichen Obszönität der Natur.

Der Hai war vermutlich eine Ente. Dennoch verbrachten wir die nächsten Ferien wieder am Chiemsee. Dort gibt es nachweislich keine Haie, aber einen Fernseher im Zeltplatzrestaurant. Darin erklärte uns Hans Hass, bärtig und mit allen Wassern gewaschen, daß man vor Haien keine Angst haben muß. Sie ließen sich im Notfall leicht dadurch vertreiben, daß man unter Wasser schreit. Wie schreit man unter Wasser? Indem man mit den Händen vor dem Mund einen Resonanzkörper bildet. Der Chiemsee hallte wider vor unseren Anti-Hai-Schreien.

2

Das Meer ist gleichmütig. Es trägt die Menschen, es verschlingt sie und spuckt sie wieder aus. Aber es interessiert sich kein bißchen für sie. Von diesem Gleichmut ist auch Moby Dick, der weiße Wal, an dem Kapitän Ahab mehr als sein Bein verlor. Er zerschlägt mit einem tückischen Schlag des Schwanzes ein Schiff, aber die Menschen kümmern ihn nicht weiter, so wenig ihn Ahab kümmert, der seine Lanze noch in ihn sticht, als Moby Dick ihn mit in die Tiefe nimmt.

Haie sind da ganz anders. Sie haben es auf Personen abgesehen. Sie sind die Lustmörder des Meeres, die ihre Opfer fixieren, umkreisen. Sie sind, sieht man einmal von Seeschlangen und Riesenkraken ab, die einzigen Meeresbewohner, die sich intensiv für den Menschen interessieren. Und wie alle Lustmörder sind sie dabei auch verkappte Künstler. Ihr Material ist nicht nur der eigene schöne, zynische und hypersymbolische Körper, sondern auch der des einzelnen Menschen.

Der Hai lädt dich zu einem Todestanz. Er ist jung, gierig, elegant. Durch den Hai wird aus der Tragödie der Gleichgültigkeit ein Melodrama. Er ist das moralische Tier, welches das persönliche Opfer fordert. Piraten zum Beispiel lieben es, ihre Gegner „zu den Haien zu schicken“. Zum Helden wird, wer die Jungfrau davor bewahrt, an die Haie verfüttert zu werden. Schatzsucher kommen immer wieder in „haiverseuchte“ Gewässer. Haie tauchen immer dort auf, wo Menschen auf und im Meer irgendwas Verbotenes tun. Ihre Lust auf Blut ist zugleich Ausdruck und Strafe für die verbotenen Wünsche auf See. Weshalb unsere Helden immer auch den großen puritanischen Sieg davontragen, wenn sie jemanden vor einem Hai retten. Haie riechen das Blut, sagt man. Noch mehr riechen sie die Sünde.

3

Der Mythos, sagt Roland Barthes, ist eine Sprache. Er erzählt von den großen Widersprüchen und hebt sie in einem Bild von Ewigkeit und Natur auf. Der größte Widerspruch auf See ist der zwischen zwei Formen der Angstlust. Die unendliche Weite, die Gleichgültigkeit, die Verlorenheit des Blicks auf der einen Seite, die drangvolle Enge, die Gefangenschaft, die barbarische Reduktion des Körpers an Bord auf der anderen. Natur und Zivilisation treffen in ihren reinsten Formen aufeinander. Dieser Widerspruch zweier Erfahrungen von Absurdität, nach denen man, wie jeder weiß, der das Meer liebt, auch erheblich süchtig werden kann, ist nur durch das Drama, durch ein Bild der Bedrohung aufzulösen.

Sicher: Der Hai trachtet dir nach dem Leben. Aber zugleich hebt er die transzendentale Einsamkeit auf. Und wenn sich Menschen auf See gegenseitig zur Hölle werden, dann genügt das Auftauchen der magischen Dreiecksflosse, um aus Leuten, die sich gerade noch gegenseitig an die Gurgel gehen wollten, wieder eine Gemeinschaft zu machen. So wird aus dem Hai, dem gierigen Melodramatiker des Meeres, in der populären Mythologie auch ein Erzieher.

Und eben das ist die Kunst der Haie, daß sie aus etwas, für das es keine Bilder gibt, für etwas, das man nicht erzählen kann, wieder ein manifestes Geschehen machen. „Haie blicken dich an“ – das ist ein lausiger Titel für eine beliebige Unterwasserreportage. Aber es trifft den Mythos im Kern. Die Augen dieser sehr gelungenen Mischung aus Phallus und „Vagina dentata“ sind wirklich das, was in der gleichmütigen Natur des Meeres auf den Menschen zurückblickt, einer jener „Flecken“ im Spiegel, von denen Lacan spricht, und durch die das Dämonische nur kommen kann.

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Der Hai verlangt vom Menschen im Meer einen verlorenen Respekt zurück. Noch unser sportiver Held aus „Bay Watch“ erinnert pubertierende Knaben an ihre Grenzen, wenn er sie warnt, beim Surfen am verbotenen Strand zu „Haifischfutter“ zu werden. Anders als die gleichmütigen Gefahren des Meeres, die Strömung, der Sturm, die Qualle, die Moräne, scheint der Hai willentlich böse. Er dreht die Rollenverteilungen um; er macht aus den Jägern Gejagte, aus den Ausbeutern Ausgebeutete, aus den Tätern Opfer. Das wäre, sogar wenn es wahr wäre, nur gerecht.

Wenn er die Schurkenrolle in einem Melodrama spielt, so tut er es offensichtlich mit Lust. Wie alle melodramatischen Bösewichte ist er nicht nur ein Mörder, sondern auch ein Verführer. „Lo Squalo“, ein grinsender Hai, ist das Markenzeichen jener „schmutzigen“ Publikationen, die Schüler und Familienväter am Luftmatratzen-Strand nur auf dem Bauch liegend konsumieren. Man kann uns viel erzählen, davon, daß die tatsächliche Gefahr, die vom Hai für den Menschen ausgeht, in keinem vernünftigen Verhältnis zur Hai-Angst steht, oder davon, daß wir uns im Hai, wie andernorts von Spinnen, Schlangen oder Wölfen vor allem ein Bild unserer inneren Dämonen gemacht haben. Unser Hai-Melodrama verliert deswegen nichts von seiner Wirksamkeit. Denn der Mythos benötigt, um es noch einmal mit Roland Barthes zu sagen, nur einen „Wirklichkeitsrest“, um zu funktionieren.

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Der Hai also drückt nicht nur unsere Angst vor den Gefahren der unbekannten Gewässer aus, er ist als Schurke im ewigen Melodrama nicht nur von obszöner Faszination, er ist nicht nur eine jener Bedrohungen, die durch Opfer, Bewährung und Erlösung die Erzählung des Abenteuers auf See erst sinnvoll machen, ganz klammheimlich ist er auch unser Verbündeter in der Liebesgeschichte zwischen dem Menschen und dem Meer. Er ist der anarchistische Freiheitskämpfer, der dafür sorgt, daß sich die Menschen im großen Wasser nicht einfach fühlen dürfen, als wären sie hier zu Hause. Und wenn er auf hoher See und um die unberührten Trauminseln unserer Abenteuerreisen herum für ein Melodrama sorgt, dann veranstaltet er an den Luftmatratzen-Stränden eine herrliche Farce. Er vertreibt, was an unserer Beziehung zum Meer trivial ist; die Sonnencreme-Mädchen kreischen, die Eisverkäufer verlieren ihre Waren, Muscle Beach gerät in helle Aufregung, und den Touristen vergeht der Appetit auf Meeresfrüchte. Mit dem Auftauchen der Haie wissen wir: Das Meer ist niemals wirklich vollständig unterworfen, zum Spielplatz der Freizeitindustrie geworden, es zeigt immer wieder sein wahres Gesicht als barbarisch schöne Natur, die der Besiedlung, Verwandlung, Ausbeutung Grenzen setzt. Der Hai vertreibt die Massen, das eingeölte Haifischfutter, das sich vor lauter Konsum selber in eine glänzende Ware verwandelt hat, und läßt nur den einzelnen gelten. Den einzelnen, der versteht.

Denn selbst dort, wo wir den Hai nicht als dämonischen Angreifer ansehen, sondern als Wesen mit einem ausdifferenzierten Verhaltenscode, das unter der Aggression des Menschen mehr zu leiden hat als dieser unter der seinen, ist die Begegnung mit ihm ein „Augenblick der Wahrheit“. Nicht einmal, wenn wir den Hai vom faszinierenden Schurken zum unschuldig-schönen Opfer machen, ändert sich allzuviel in der Struktur des Melodrams. Er ist das als individuelles Subjekt lebende Gegenüber der Natur, bereit zu beweisen, daß mit ihr nicht zu spaßen ist.

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Die Begegnung mit dem Hai ist der Augenblick der höchsten Angstlust in der Liebesgeschichte zwischen dem Menschen und dem Meer. Alle gegenseitige Schuld, alle gegenseitige Scham verschwindet in diesem Moment. Und weil er weder gleichmütig noch – in der Regel – „massenhaft“ auftritt, sondern so individuell wie jener Hai, der auf ewig dem Kapitän Hook nachstellt, um nach seiner Hand auch noch den Rest seines verderbten Körpers zu verspeisen, ist er auch ein „bürgerlicher“ Antiheld. Was ihn wirklich gefährlich macht, ist seine Neugier. Er ist der böse Bruder des klugen Delphins, dessen Spielfreude ihn zum Musterschüler der gezähmten Natur macht. Ein genialer, sadistischer Störenfried, der die Mädchen erschreckt, den Lehrer beißt und für die Schulordnung nur ein diabolisches Grinsen hat.

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Natürlich ist der Hai-Mythos eine schreiende Ungerechtigkeit gegenüber dem Tier selbst, ebenso wie der Mißbrauch seines Namens für – ausgerechnet! – ausbeuterisches Verhalten von, sagen wir, „Immobilienhaien“, „Börsenhaien“ oder Leuten in der „Haifischbranche“ Entertainment. Aber seien wir ehrlich: Wie könnten wir das Meer erfahren und erzählen, wenn es keine Märchen, keine Lügengeschichten, keine Mythen gäbe. Und wie jeder Schauspieler weiß: Die Rolle des Schurken ist immer die interessanteste.

mare No. 14

No. 14Juni / Juli 1999

Von Georg Seeßlen

Georg Seeßlen, 1948 geboren, arbeitet seit Abschluß seines Malerei-Studiums als Schriftsteller, freier Journalist und Essayist. Er hat sich vor allem als Filmkritiker einen Namen gemacht. Dies ist sein erster Beitrag in mare

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Vita Georg Seeßlen, 1948 geboren, arbeitet seit Abschluß seines Malerei-Studiums als Schriftsteller, freier Journalist und Essayist. Er hat sich vor allem als Filmkritiker einen Namen gemacht. Dies ist sein erster Beitrag in mare
Person Von Georg Seeßlen
Vita Georg Seeßlen, 1948 geboren, arbeitet seit Abschluß seines Malerei-Studiums als Schriftsteller, freier Journalist und Essayist. Er hat sich vor allem als Filmkritiker einen Namen gemacht. Dies ist sein erster Beitrag in mare
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