An den Stränden des Untergangs

Schiffswracks ziehen uns magisch an. Sie gemahnen uns an das unbegreif­liche Schicksal der eigenen Vergänglichkeit

Der Weg zur „American Star“ war steinig und schwer befahrbar, wenigstens für unseren japanischen Kleinwagen. Wir riskierten, mindestens unsere Fahrzeugkaution zu verlieren, wenn nicht sogar eine Panne zu erleiden, hier in der unwirtlichen Einöde an der Westküste Fuerteventuras, wo fast niemand wohnt und das Handynetz allenfalls zeitweise funktioniert. Dennoch fuhren wir weiter, Kurve um Kurve, im Schritttempo, zu einem inzwischen fast legendären Stück Strandgut, das bis vor gut 15 Jahren etliche Meter hoch aus der immerwährenden Brandung aufragte, einem Stück Strandgut, das es inzwischen nicht mehr gibt. 

Unsere Reise zu dem längst versunkenen Wrack der „American Star“ steht exemplarisch für ein Phänomen, das schon seit Urzeiten die Literatur- und Mediengeschichte durchzieht: die Sehnsucht nach Katastrophenrelikten und die Reise zu den Überresten versunkener Schiffe, die die Menschen auch dann noch in ihren unheimlichen Bann ziehen, wenn sie längst von der Oberfläche dieses Planeten verschwunden sind. Die „Titanic“ als wohl berühmtestes Beispiel ist eines dieser Schiffswracks. Doch die ­Liste der verlorenen Dampfer ist lang und die der Menschen, die nach der Katastrophe ihr Leben ließen, um die Überreste zu erreichen, ebenso.

Da gab es jenen Fotografen, der durch das Hafenwasser Genuas zum Abwrackdock der „Costa Concordia“ schwamm, eine Nacht auf dem verrotteten Kreuzfahrtriesen verbrachte und aus den Fotos einen Bildband machte, der bis heute mit einer Mischung aus Abscheu und Schauder weitergereicht wird. Das zerstörte Schiff habe ihn wie ein Magnet angezogen, sodass er es schließlich wagte, heimlich dort hinzuschwimmen, erzählte er später in einem Interview. Weil auf dem havarierten Ozeanriesen 32 Menschen den Tod fanden und zu diesem Zeitpunkt immer noch die Gebeine eines Opfers in den Gängen des Wracks vermutet wurden, empfanden viele sein Tun als voyeuristisch. Hingeschaut aber haben die meisten, wenn auch oft über den Umweg der breiten Berichterstattung in fast allen großen Medien. 

Zu sehen gab es eigentlich auf den Bildern wenig, abgesehen von verschlammten Möbeln, algenbedeckten Gängen, verrotteten Bartheken und einem riesigen leeren Theater. Und den rostigen Überresten der Kommandobrücke, auf der der unglückselige Kapitän im fahrlässigen Überschwang das Schiff vor gut zehn Jahren auf einen Felsen vor der kleinen Insel Giglio lenkte, wo es erst kenterte und dann mehr als zwei Jahre lang zur ungewollten Touristenattraktion wurde.

Das Innere sah nach der langen Zeit so aus, wie Dinge eben aussehen, die so lange dem zersetzenden Einfluss des Meeres ausgesetzt waren, und doch übten die unter zweifelhaften Umständen entstandenen Fotos einen magischen Reiz aus, dem sich nur die wenigsten entziehen konnten. 

Wenn ein Haus leer steht, bleibt es begehbar; es wird entweder abgerissen oder renoviert, aber verändert nicht seine Lage im Raum. Anders ein aufgegebenes Schiff, das zum Wrack wird und ganz oder teilweise versinkt. Es geht in einen Zwischenzustand über, in eine Welt zwischen Gegenwart und Vergangenheit oder, wenn man so will, zwischen Leben und Tod. Menschen müssen sich, wollen sie diese Welt erreichen, großen Gefahren aussetzen. Unter der Wasseroberfläche können sie nicht atmen, das Wrack nur noch durch das Glas der Taucherbrille, die Bull­augen des U-Boots oder über den Umweg einer Kamera eines Tauchroboters wahrnehmen. Das Schiff, das zum Wrack geworden ist, ist zwar noch da, aber gleichzeitig hat der Prozess des endgültigen Verschwindens längst begonnen und kann oft über Jahrzehnte von immer neuen Besuchern verfolgt werden. 

Der Verfall unter der Meeresoberfläche wird so zum Sinnbild für den Zeitraum des Vergessens, der erst nach dem Tod eines Lebewesens einsetzt und oft sehr lange dauert. Auch Schiffswracks sind davon betroffen, denn sie verfallen nicht nur äußerlich. So war die 1956 nur 70 Meter tief gesunkene „Andrea Doria“ viele Jahre lang ein begehrter Tauchspot, bis das Interesse erst in den letzten Jahrzehnten nachließ. Trotz der vielen Menschen, die das Wrack unter der Meeresoberfläche besucht haben, schwand die kollektive Erinnerung an das einst stolzeste Schiff der italienischen Transatlantikflotte. Inzwischen gibt es Memo­rial-Websites aus der Frühzeit des Internets mit pixeligen Taucheraufnahmen aus den Innenräumen der „Andrea Doria“, die seit vielen Jahren nicht mehr aktualisiert werden. Auch deren ­Urheber, die einst das Wrack besuchten, sind inzwischen von der Welt verschwunden. 

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 152. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 152

mare No. 152Juni / Juli 2022

Von Alexander Kohlmann

Alexander Kohlmann, Jahrgang 1978, war schon als Kind begeistert von Schiffswracks, auch wenn es davon in seiner Heimat Braunschweig nicht viele gab. Der Theaterleiter und Medienwissen­schaftler stößt in seiner Arbeit immer wieder auf das, was die See freigibt, ­unter anderem von den Schiffbrüchen in Wil­liam Shake­speares Werken. Für mare schrieb er bereits über die unerfüllbare Sehnsucht nach dem Paradies und Ähnlichkeiten zwischen ­Theaterhäusern und Ozeanriesen.

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Vita Alexander Kohlmann, Jahrgang 1978, war schon als Kind begeistert von Schiffswracks, auch wenn es davon in seiner Heimat Braunschweig nicht viele gab. Der Theaterleiter und Medienwissen­schaftler stößt in seiner Arbeit immer wieder auf das, was die See freigibt, ­unter anderem von den Schiffbrüchen in Wil­liam Shake­speares Werken. Für mare schrieb er bereits über die unerfüllbare Sehnsucht nach dem Paradies und Ähnlichkeiten zwischen ­Theaterhäusern und Ozeanriesen.
Person Von Alexander Kohlmann
Vita Alexander Kohlmann, Jahrgang 1978, war schon als Kind begeistert von Schiffswracks, auch wenn es davon in seiner Heimat Braunschweig nicht viele gab. Der Theaterleiter und Medienwissen­schaftler stößt in seiner Arbeit immer wieder auf das, was die See freigibt, ­unter anderem von den Schiffbrüchen in Wil­liam Shake­speares Werken. Für mare schrieb er bereits über die unerfüllbare Sehnsucht nach dem Paradies und Ähnlichkeiten zwischen ­Theaterhäusern und Ozeanriesen.
Person Von Alexander Kohlmann