Am Pool der Welt

An den 440 000 Kilometern Küste entscheidet sich die Zukunft unseres Planeten

Daumenbreit schwebt über der Lagune die Abendsonne. Orange, schwer, rund. Die mit tausenden Palmen bedeckte Atollinsel schwingt aus bis zum Horizont, und übers flammende Wasser geht unhörbar der Wind. Noch nie war der Pazifik so weit. Wie in einem Fernseher, dem jemand den Ton abgedreht hat. Eiskalt von der Aircondition sind die getönten Panoramafenster im Tide table, wo sich die Bewohner der Hauptstadt Majuro, die, die es sich leisten können, zum Snack und Palaver treffen. Am Nebentisch wird ein Thunfisch-Omelett serviert. Glasig-gelb quillt es aus der Eiertasche, der Thunfisch schwimmt in Mayonnaise, während die immer gleiche Kassette den Raum mit Steve Miller und den Eagles beschallt. Der Hang zu überteuertem Junk food ist auf den Marshall-Inseln genauso unverderblich wie Majuros Thunfisch - er stammt in der Regel aus weitgereisten Konserven.

Ein Atoll besteht nur aus Küste. Hier drängt sich alles zusammen. Zehntausende Mikronesier hat es von den äußeren Inseln auf den 100 Meter breiten Korallenstreifen von Majuro verschlagen - in der Hoffnung auf ein besseres Auskommen. Schon lange gibt die mit Müll und Abwassern belastete Lagune nur wenig Fang her. Die meisten Hauptstädter, nicht selten Gestrandeten gleich in armseligen Hütten hausend, haben das Fischen ohnehin verlernt. Auch wie man Kokospalmen besteigt. Mit Hilfe von stinkenden Abfallballen schoben Planierraupen die Inselküste ins Meer hinaus - Landgewinnung auf mikronesische Art.

Wie in einem Brennglas fokussieren sich an den Ufern des Südsee-Eilandes die Probleme der weltweit wachsenden Küstenbevölkerung. Mehr als die Hälfte aller Erdbewohner lebt bereits innerhalb eines Küstengürtels von 80 Kilometer Breite, nimmt man 150 Kilometer, sind es sogar zwei Drittel. Binnen 30 Jahren werden drei von vier Menschen am Meer oder in küstennahen Gebieten wohnen. Keineswegs in dörflicher Idylle, sondern in riesigen Ballungszentren. Schon heute liegen neun der zehn größten Megastädte in Meeresnähe. Das global village ist Fiktion. Dem erdumspannenden Geflecht von Küstenmetropolen gehört die Zukunft. Dort, am Saum der Elemente Wasser, Erde und Luft, ist die Menschheit herausgefordert, sich naturverträglich einzurichten.

„Die Meeresküste ist wie ein Rücken, der Millionen von uns trägt", besagt eine alte Fischer-Weisheit. Das Rückgrat droht, mürbe zu werden. Zu stark belasten Uferbebauung und Wohlstandsmüll, Industrieabwässer und Ölrückstände das lebensspendende Elixier. Nährstoffreiche Mangrovenwälder und fruchtbare Flußmündungen sind die Kinderstube für Fische und Schalentiere, inzwischen die wichtigsten Proteinquellen weltweit, noch vor Rindfleisch. Die bedeutendsten Laichgründe befinden sich innerhalb eines sehr schmalen Gewässerstreifens: Er ist von der Küste aus mit bloßem Auge zu überblicken. „Zwei Drittel aller kommerziell gefangenen Fische", schreibt Peter Weber für das renommierte World Watch Institut in Washington, „verbringen zumindest ihre erste Lebensphase in diesen küstennahen Gebieten." Kein Wunder, daß 80 Prozent des Weltfangs aus der 20-Meilen-Zone stammen.

Auch die Meeresflora gedeiht nirgendwo üppiger: Ein Viertel der gesamten Pflanzenmasse des Planeten wächst im Flachwasser heran. Das hemmungslose und unüberlegte Wuchern der Städte, die Metropolitis, kann diese biologische Schatzkammer rasch zunichte machen, wie ein Blick auf die neue Wachstumsregion Asien zeigt. Die Handels- und Industrieenklave Singapur expandiert mit atemberaubendem Tempo. Aber mindestens ebenso schnell verfällt ihr marines Naturpotential. Von den einst so farbenprächtigen Korallenriffen vor Singapurs Küste sind 95 Prozent tot. Konnte man dort 1960 acht Meter tief in die kristallene Flut schauen, waren es 1992 nur noch drei Meter. Mehr als trübe Aussichten bestehen für die Mangroven Singapurs: Die Stelzwurzelgewächse im Salzwasser sind der perfekt geschützte Tummelplatz für tropische Fischspezies jeder Art - aber alle Mangrovenwälder der Halbinselspitze sind zerstört.

Singapur ist im Verhältnis zu China mit seinen 1,2 Milliarden Einwohnern geradezu winzig. Und auch in China - wie überall in den Boomstaaten Ostasiens - wälzt sich ein unübersehbarer Strom von Menschen in die aufstrebenden Hafenstädte und Industriegebiete am Meer. Die Bevölkerung an der chinesischen Küste wächst zehnmal schneller als im Inland.

„Noch beklemmender: Chinas Bevölkerungswachstum wird sich vermutlich noch beschleunigen in den 14 neu geschaffenen ,Freien Wirtschaftszonen' und fünf ,Sonderwirtschaftszonen'. Was kaum überrascht - alle liegen an der Küste." Dies hat der schwedische Autor Don Hinrichsen im UN-Auftrag recherchiert.

In Südostasien, wo sich bereits zwei Drittel der Menschen unweit von Stränden und Felsküsten, von Kais und Molen, von Flußdeltas und Fischerdörfern zusammendrängen, hat die siedlungsdichte Zukunft der Gestade schon begonnen. Nicht nur die Inbesitznahme von unberührten Landstrichen und das Ausnutzen der Gezeiten als Abfallspülung setzt dem empfindlichen Biotop Küste zu. Kurzsichtiger Raubbau wie Dynamitfischen oder das Sprengen von Korallenbänken für Baumaterial sind zwischen Luzon und Sumatra weit verbreitet. Während einerseits der Nachwuchs der artenreichsten Unterwasserpopulation überhaupt - vom Picasso- bis zum Papageienfisch - ein wahrhaftes Bombardement erlebt, werfen vor den Küsten hungrige Mäuler und international operierende Trawler ihre Netze aus. „Fast alle asiatischen Gewässer innerhalb einer Küstenentfernung von 15 Kilometern gelten als überfischt", diagnostiziert Ed Gomez, Leiter des Marine Science Institute an der Universität in Manila.

Zum Erholen ist da kaum Zeit. Zumal vor allem aus der Luft weitere meereshungrige Massen nahen: Urlauber. Die Hälfte aller Touristen weltweit - und das sind jedes Jahr Hunderte von Millionen - wollen ihre kostbarsten Wochen umgeben von blaugrün funkelnder Unendlichkeit verbringen. Die Fremdenverkehrsindustrie, mit 500 Milliarden Dollar Umsatz größter Wirtschaftszweig der Erde, fördert dieses Bedürfnis nach Kräften mit preisgünstigen Angeboten. Die Angehörigen der Freizeit-Kultur machen am „Beach" Pause von der auszehrenden Zivilisationsmühle, voller Sehnsucht nach jener fächelnden Kokospalme, die sich über das Eisbonbonblau einer unberührten Lagune neigt. Das Meer - nurmehr ein natürlicher Swimmingpool. Zurück bleiben die Benzinschlieren von Motorbooten, jede Menge Kolibakterien und unverwüstliche Sixpackträger aus Kunststoff - von Miami bis Waikiki.

„Auf jeden Fall hat dieser Hedonismus mit seiner demographischen Drift zur Küste, der überall auf der Welt stattfindet, eine deutlich verunreinigende Wirkung auf den Ozean", resümiert der Brite James Hamilton-Patterson, Mitglied der Royal Geographic Society.


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mare No. 1

No. 1April / Mai 1997

Von Thomas Worm

Thomas Worm, Jahrgang 1957, lebt als freier Autor in Berlin und schreibt Reisereportagen.

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