Achtung – und Sprung!

Wieviel wissen Segelschullehrer wirklich über das Thema Sicherheit an Bord?

Nehmen Sie jetzt gefälligst Haltung an, Mensch! Soldaten, alles hört auf mein Kommando!“

Nein, das hat er nicht wörtlich gesagt. Auch wenn es so scheint. Im einen Moment lässt zwar sein Bariton auch das letzte Rückenhaar der Herrschaften strammstehen, dann wieder hält der Mann seinen Handrücken vor und murmelt entschuldigend: „Sie dürfen das nicht persönlich nehmen…“

Nichts für ungut: Heute hat Kapitän-Leutnant Otto Stoehr nämlich wieder eine illustre Truppe vor sich stehen. Die meisten der knapp dreißig Männer und zwei Frauen sehen zum Schießen aus in dem ausgeliehenen Bundeswehrgrün, das über die Badekleidung zu zwängen war, um den Ernst der Übung zu unterstreichen. Aber: der Wanst zu groß, die Hose zu eng, zu kurz, zu lang. Da brüllt es sich wahrscheinlich ganz von selbst.

Der „Fachverband Seenot-Rettungsmittel“ hat eingeladen: Ausbildungsleiter, Dozenten von Segelschulen und Ausbildungsstätten, Prüfer von Prüfungsausschüssen. Ort der Handlung: Neustadt an der Ostsee, Technische Marineschule der Bundeswehr. Die Institution in Sachen Notfall-Unterricht, wie allseits bestätigt wird. Selbst erfahrene Skipper hatten hier ihr Aha-Erlebnis. An den kleinen Küstenort wird auch aus dem Ausland angereist.

Wer allerdings in welcher Eigenschaft gekommen ist, war nicht so ohne weiteres zu erfahren gewesen: „Ja, ja, ich habe auch im weitesten Sinne mit Booten zu tun“, sagt einer. Ein anderer: „Wieso wollen Sie das wissen?“

Gestern stand eine „praktische Einweisung in die Brandabwehr“ auf dem Plan, abends trat in einer stählernen Unterdeck-Attrappe ein überraschendes Leck auf. Wie schnell ein Brandlöscher entleert ist, überraschte manchen ebenso wie die Geschwindigkeit, mit der Wasser durch fingergroße Löcher eindringt. Bei abendlicher Bier-Runde bestand trotzdem allgemeiner Konsens bezüglich der eigenen Leistungsfähigkeit.

So wie bei jener sechsköpfigen Crew, von der der Mann von der Travemünder Wasserschutzpolizei zu berichten wusste, die des Sommers mit einer Yacht vom Typ „Sunrise 34“ zum Ostsee-Törn in See gestochen war. Nach fünf Tagen gerieten die Hobbysegler in stürmisches Wetter, ein Besatzungsmitglied wurde vom Großbaum getroffen und ging mit schweren Kopfverletzungen über Bord, woraufhin zwischen den Seglern prompt ein Kompetenz-Chaos ausbrach: Der Skipper, in Notfällen eigentlich zuständig für die Koordinierung der Rettungsmaßnahmen, irrte kopflos zwischen Ruder, Funkgerät und Kabine hin und her, während der Großbaum, der zuvor den Schiffbrüchigen am Kopf getroffen hatte, weiter hin und her schlug und der Rest der Mannschaft mit einer kollektiven Blockade rang. Nach dreißig Minuten wurde der Mann schließlich von einem herbeigeeilten Fischkutter tot geborgen.

Oder das Pärchen, das vor Rügen losmachte und zuvor noch ordentlich mit Hochprozentigem angestoßen hatte. Als die junge Frau später auf See gerade in der Kajüte hantierte, war vom Deck über ihr plötzlich ein Schlag zu hören. Der Segler war aus ungeklärten Gründen über Bord gegangen und schnell außer Sichtweite – die Passagierin fand sich unversehens alleine auf einer 12-Meter-Yacht in der Ostsee vor.

„Die Dame hatte natürlich von Tuten und Blasen keine Ahnung“, hatte der Uniformierte vorne an der Tafel berichtet. Und der Hörsaal grölte. Bis auf zwei. Kein „Mann-über-Bord“-Manöver, keine Einweisung in die Seerettungsmittel, nicht einmal die Frage, ob jeder schwimmen kann, gehören zu den Dingen, die deutsche Sportbootkapitäne vor Reiseantritt üblicherweise besprechen. Überhaupt: Nicht jeder trägt eine Schwimmweste für den Notfall. Und deshalb haben selbst einige der Segellehrer unter uns beachtliche Probleme mit dem Anlegen der Rettungshilfen, als nun in der Schwimmhalle der Ernstfall geprobt wird. Jetzt steht das Geschwätz von gestern auf dem Prüfstand.

Erste Übung: Überleben in der Rettungsinsel, ein paar Minuten Geschaukel zwischen künstlich erzeugten Brechern, neun Mann in einer für sechs Personen ausgelegten Ausführung, „das entspricht der Wirklichkeit“, ruft der Bärtige durch die Halle, und mir scheint, als sähen manche der Teilnehmer zum ersten Mal, wie sich aus dem ins Wasser geworfenen Koffer ein schwimmendes Zelt aufplustert.

„Ich sage es denen jedes Mal, aber keiner hört auf mich“, murmelt der Mann vom Hersteller neben mir, der mit seinem Sponsoring die Teilnahme am Seminar überhaupt bezahlbar gemacht hat.

Nämlich: Am Abend zuvor ist wieder ordentlich gebechert worden. Beim Einsteigen war eigentlich Teamgeist gefragt. Oder erbeten worden? Oder Voraussetzung? Ganz sicher weiß es jetzt keiner mehr, und deshalb hat sich auch niemand daran gehalten. Mein Nebenmann zollt bereits seinen Tribut in Tüten, bevor die erste Welle über den schützenden Kunststoff hereingebrochen ist. Und hört nicht mehr auf, so dass auch andere dreimal schlucken müssen, damit es unten bleibt. Statt darauf zu achten, dass die knöcheltief unter Wasser stehende Sicherheit nicht durch weitere Wassermassen, die durch die Plane einbrechen, vollends überflutet wird.

Doch es hat schon wieder aufgeklart: In der anderen Rettungsinsel wurde jemand schon nach wenigen Minuten von der Platzangst besiegt, weshalb das komplette Manöver schnellstens unterbrochen werden musste. So klettern wir dann bei klatschenden Wellen über Strickleitern eine gekachelte Schiffswand-Attrappe empor.

Derjenige, der die ganze Zeit den bequemen Wandplatz in der Mitte hatte, lamentiert jetzt lauthals unter mir, man könne es mit der Authentizität auch übertreiben.

Dann erfolgt der Sprung in Zweiergruppen von der haushohen „Bordwand“. Einigen steht schon der Schrecken ins Gesicht geschrieben, andere lassen mich jetzt mit freundlichem Nachdruck vor. Dabei ist die Lektion, wenn man nicht wie gebannt nach unten schaut, ein Kinderspiel: Wenn es einen wieder nach oben treibt, ist einfach das Schnürchen vom Auslösemechanismus zu ziehen. Der Rest geschieht von selbst. „Achtung!…“ ruft der junge Soldat jedesmal zwischen dem jeweiligen Sprungpaar. „…Und – Sprung!“ Die meisten springen schüchtern-wortlos wie verurteilte Delinquenten, einige wie im alkoholisierten Übermut.

Bei demjenigen, der den mitgeführten Camcorder zuvor stets wie ein Schutzschild gegen die allgemeine Teilnahmepflicht in Stellung brachte, hat sich der Overall wie ein Luftkissen aufgeblasen. „Hey, Sie Schlaumeier, lassen Sie doch diesen Blödsinn!“ schallt es ihm vom gegenüberliegenden Beckenrand entgegen, weil er nun auch noch alle Viere von sich streckt und wie im Urlaub „Toter Mann“ spielt. Einem älteren, der auch Segellehrer sein soll, ist offensichtlich das Ventil nicht vertraut, durch das man Luft ablassen kann, wenn einem der Hals zu eng wird.

Ein weiterer Panikanfall, zwei der Assistenten sind sofort als Lebensretter zur Stelle. Es braucht Zeit, bis sich der Betreffende wieder erholt hat. Irgend jemand sagt später, es sei wohl ziemlich ernst gewesen. Und ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus.

„Techniker oder eher der Germanist?“ fragt Kapitän-Leutnant Stoehr, der nichts für die Schüler kann, die man ihm vorsetzt. Aber ich verstehe schon auch ohne Physikstudium, dass die Plastikkapuze, die man Spraycap nennt, gegen Überflutung und Auskühlung schützen soll. „Kann man gar nicht hinsehen, nicht wahr?“ meint ein Jüngerer und schielt auf den Magenkranken, der sich immer noch am Wasserhahn festklammert und im großen Stil ins Trinkbecken kotzt.

Dann ist ein zweiter Sprung vorgesehen, und jetzt gilt es, nach dem Auftauchen schnell einen festen Kreis zu bilden, um ein Abtreiben einzelner zu verhindern. Unsere Runde lässt an die Wassergymnastik im Rahmen eines Kuraufenthaltes denken. Denn die Laune ist allerseits bestens, und man planscht ausgelassen mit den Beinen.


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mare No. 7

No. 7April / Mai 1998

Von Lasse Dudde und Heike Ollertz

Lasse Dudde lebt in Lübeck und Stockholm. Der freischaffende Reporter besegelt in seiner Freizeit gern die Ostsee.

Heike Ollertz lebt und arbeitet als freie Fotografin in Berlin. Exklusiv für mare begab sie sich ins Trainingslager der Technischen Marineschule der Bundeswehr. In mare No. 2 erschienen ihre Fotos über die britischen Seebrücken.

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Vita Lasse Dudde lebt in Lübeck und Stockholm. Der freischaffende Reporter besegelt in seiner Freizeit gern die Ostsee.

Heike Ollertz lebt und arbeitet als freie Fotografin in Berlin. Exklusiv für mare begab sie sich ins Trainingslager der Technischen Marineschule der Bundeswehr. In mare No. 2 erschienen ihre Fotos über die britischen Seebrücken.
Person Von Lasse Dudde und Heike Ollertz
Vita Lasse Dudde lebt in Lübeck und Stockholm. Der freischaffende Reporter besegelt in seiner Freizeit gern die Ostsee.

Heike Ollertz lebt und arbeitet als freie Fotografin in Berlin. Exklusiv für mare begab sie sich ins Trainingslager der Technischen Marineschule der Bundeswehr. In mare No. 2 erschienen ihre Fotos über die britischen Seebrücken.
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