Strand der Illusionen

Der schneeweiße Strand im toskanischen Rosignano ist so schön wie in der Südsee. Bittere Wahrheit: Ein Chemiewerk war’s

Die Idee, vor einer Chemiefabrik zu baden, fand ich schon damals bizarr. Es war der Sommer 1989, und ich lernte Italienisch im kleinen toskanischen Seebad Castiglioncello, einem Ortsteil von Rosignano Marittimo, unweit von Livorno. Nachmittags, wenn wir uns von den Tücken des Konjunktivs erholen wollten, gingen wir an den Strand von Castiglioncello – und lehnten empört ab, mitzukommen an die spiagge bianche, die weißen Strände von Rosignano Solvay, die ihre Farbe nicht der Natur, sondern den Einleitungen des Chemiekonzerns Solvay verdankten.

Wir schüttelten den Kopf, wenn die Italiener von dem gleißend weißen Sand und dem türkisblauen Wasser schwärmten. In Deutschland verging kein Tag, an dem nicht über Waldsterben und sauren Regen geklagt wurde – und hier sollten wir uns an einen Chemiestrand legen? Die Italiener belächelten uns. Gott, ja, das bisschen Soda wird doch niemanden umbringen. Wird doch schon seit Jahrzehnten hier eingeleitet.

Zukunftsgläubig, wie wir in jenem Sommer waren, hielt ich den Strand von Rosignano Solvay für ein überkommenes Relikt. Kurz vor dem Fall der Mauer glaubten wir an den Aufbruch in eine bessere, gerechtere und auch sauberere Welt – und warum sollte das nicht auch  für von Chemiefabriken verpestete Strände gelten?

Nahezu drei Jahrzehnte später stehe ich wieder hier. Vor rauchenden Schloten, Kühltürmen und Abgasrohren, aus denen ein weißer Schleier aufsteigt. Ein kleines Mädchen gräbt sich bis zum Hals in den Sand ein. Ein Junge stürzt sich kopfüber in die Fluten.

„Karibikfeeling in der Toskana“ schreibt einer auf TripAdvisor. Ein anderer: „Sand, so weiß wie Puderzucker und weich wie Samt.“

Tja. Kann man so sehen. Wenn man es schafft, den weißen Abwasserkanal zu übersehen, dessen trübe Brühe auch heute noch ins Meer fließt, und das Verbotsschild auch. „Divieto di balneazione e stazionamento“ steht da, womit nicht nur das Baden verboten ist, sondern auch das Stehenbleiben. Jedenfalls auf den 100 Metern rechts und 100 Metern links des Abwasser­kanals. Ein Meter weiter rechts und ein Meter weiter links ist das Baden und Stehenbleiben völlig okay.

Also kann es so schlimm ja nicht sein, denken viele hier immer noch. Sodafabrik hin oder her, wen jucken Kühltürme und Schlote, wenn vor dir türkisblaue Unendlichkeit glitzert? Heute ist Montag, ein paar Familien haben es sich auf Klappstühlen und Handtüchern unter Sonnenschirmen bequem gemacht. Ein Afrikaner wartet im Schatten seines Verkaufsstands auf Kunden für Bikinis, Spiegelbrillen und Strohhüte, zwei Hunde apportieren Treibholz, ein Kitesurfer zieht durch die Wellen. Liebespaare, Strandwanderer und Sonnenanbeter haben die spiagge bianche ganz für sich allein.

Neben mir steht Francesco Serretti, Gemeinderat der oppositionellen Fünf-Sterne-Bewegung – der derzeit einzigen Partei in Italien, die sich den Umweltschutz auf die Fahne geschrieben hat. Die Grünen sind Italien seit 2009 abhandengekommen. Der letzte grüne Umweltminister fiel vor allem durch Privatflüge mit Regierungsmaschinen auf und wurde wegen illegaler Parteienfinanzierung angeklagt. Bis heute fällt das Umweltbewusstsein vieler Italiener schlagartig von ihnen ab, sobald sie aus ihrer Wohnungstür schreiten. Serretti erinnert sich noch daran, wie er als Kind versuchte, an den weißen Stränden Quecksilberkügelchen aufeinanderzustapeln – bis ihm der Hausarzt dazu riet, zwei Handtücher auf dem Sand auszubreiten und nicht ungeschützt im Sand zu spielen. Ein Ratschlag, der auch heute noch als frevelhaft gilt. „Mamma Solvay“ wird die Sodafabrik hier genannt. Es ist die größte Europas. In den 1960er-Jahren, als Rosignano Marittimo nur 20 000 Einwohner hatte, arbeiteten 4000 Menschen hier – ­heute kommen auf 30 000 Einwohner nur noch 650 Beschäftigte. Rosignano Marittimo verdankt „Mamma Solvay“ nicht nur Häuser, Schulen und ein Krankenhaus, sondern auch einen Ruderclub und ein Theater – weshalb der ganze am Meer gelegene Ortsteil nach dem Chemieriesen benannt ist.

Auf Luftaufnahmen sieht der Strand aus, als habe jemand Bleichlauge ins Meer geleitet. Damit liegt man gar nicht so falsch. Der belgische Chemiekonzern stellt hier nicht nur Natriumkarbonat her, sondern auch Wasserstoffperoxid, Polyethylen, Chlormethan, Kalziumchlorid, Natron und Salzsäure. Außer Kalziumkarbonat werden auch Schwermetalle und andere Chemikalien ins Meer eingeleitet, weshalb die toskanische Umweltbehörde Arpat im Jahr 2014 den Zustand des Wassers um den Abwasserkanal herum als „nicht gut“ bezeichnete. Und nicht nur hier sei die Belastung zu hoch, sondern auch „im größten Teil der Beobachtungspunkte an der ganzen toskanischen Küste“.


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mare No. 117

No. 117August / September 2016

Von Petra Reski und Niccolò Cozzi

Autorin Petra Reski lebt seit 1991 in Venedig. Ihr Lieblingsstrand in Italien befindet sich in Salento im südlichen Apulien bei Gallipoli – türkisblaues Wasser und keine Chemiefabrik in der Nähe.

Niccolò Cozzi, Jahrgang 1987, ist Biologe und Fotograf in Siena. Er lernte die spiagge bianche durch einen Freund kennen, der ihn zum „Surfen in der Karibik“ nach Rosignano mitnahm, „obwohl das Wasser die Haut bleichen“ werde. Beeindruckt von der Sorglosigkeit der Bade­gäste, beschloss er, sich dieses Themas anzunehmen.

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Vita Autorin Petra Reski lebt seit 1991 in Venedig. Ihr Lieblingsstrand in Italien befindet sich in Salento im südlichen Apulien bei Gallipoli – türkisblaues Wasser und keine Chemiefabrik in der Nähe.

Niccolò Cozzi, Jahrgang 1987, ist Biologe und Fotograf in Siena. Er lernte die spiagge bianche durch einen Freund kennen, der ihn zum „Surfen in der Karibik“ nach Rosignano mitnahm, „obwohl das Wasser die Haut bleichen“ werde. Beeindruckt von der Sorglosigkeit der Bade­gäste, beschloss er, sich dieses Themas anzunehmen.
Person Von Petra Reski und Niccolò Cozzi
Vita Autorin Petra Reski lebt seit 1991 in Venedig. Ihr Lieblingsstrand in Italien befindet sich in Salento im südlichen Apulien bei Gallipoli – türkisblaues Wasser und keine Chemiefabrik in der Nähe.

Niccolò Cozzi, Jahrgang 1987, ist Biologe und Fotograf in Siena. Er lernte die spiagge bianche durch einen Freund kennen, der ihn zum „Surfen in der Karibik“ nach Rosignano mitnahm, „obwohl das Wasser die Haut bleichen“ werde. Beeindruckt von der Sorglosigkeit der Bade­gäste, beschloss er, sich dieses Themas anzunehmen.
Person Von Petra Reski und Niccolò Cozzi